Auschwitz-Wachmann verurteilt: Das kleine Rädchen
Der Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning wird zu fünf Jahren Haft verurteilt. Umfassend geht die Richterin auf die Schrecken des Lagers ein.
Einige Minuten später verkündet Richterin Anke Grudda dieses Urteil über Reinhold Hanning, 94 Jahre alt und von 1943 bis 1944 SS-Wachmann in Auschwitz. Es lautet auf fünf Jahre Freiheitsentzug wegen Beihilfe zum Mord. Hanning nimmt das Urteil scheinbar unbewegt zur Kenntnis. Bei der Begründung hält er entgegen seinen Gepflogenheiten an diesem 20. und letzten Verhandlungstag den Kopf gehoben.
Hanning habe durch seine Tätigkeit in Auschwitz den „Massenmord gefördert“, sagt Grudda. Sie geht auf die Befehlshierarchie in dem Lager ein, wo bis zu 7.000 SS-Männer eingesetzt wurden, und spricht den Angeklagten direkt an: „Eines der kleinen Rädchen“, die das Unfassbare möglich gemacht hätten, „waren Sie“. Allerdings wirft sie Hanning zugleich vor, zu einer Kerntruppe unter den Wachmannschaften gehört zu haben, in der der Angeklagte eine „hervorgehobene Stellung in der KZ-Hierarchie“ eingenommen habe. Grudda hält Hanning vor, er habe „Kenntnis von dem Vernichtungsgeschehen“ gehabt und er hätte sich, „wenn Sie es gewollt hätten, zur Front melden können“.
Als strafmildernd bewertet das Gericht Hannings Geständnis, seine Entschuldigung sowie sein junges Alter zur Tatzeit ebenso wie sein hohes Alter zum Zeitpunkt des Urteils. Richterin Grudda sagt aber auch angesichts der Dimension des Massenmordes in Auschwitz mit mindestens 1,1 Millionen Todesopfern: „Eine gerechte Strafe überfordert jedes Gericht.“
Die Urteilsbegründung geht ausführlich auf die Grausamkeiten in Auschwitz ein. Das Verhungernlassen habe ebenso zum Alltag gehört wie das Erschießen von Gefangenen. „Sie haben zweieinhalb Jahre zugesehen, wie Menschen vor Ihren Augen verhungerten“, sagt die Richterin Hanning zugewandt.
Möglichkeiten für weitere Verfahren
Die Bewertung dieses Verhaltens als Beihilfe zum Mord ist in einem deutschen Strafprozess neu. Sie könnte zu weiteren Prozessen gegen NS-Täter führen. Die jüngsten Verfahren waren davon ausgegangen, dass wegen Beihilfe zum Mord nur verurteilt werden kann, wer in einem Vernichtungslager tätig war, weil nur dort alle Insassen planmäßig ermordet wurden. Das Hanning-Urteil aber eröffnet Möglichkeiten zu Verfahren auch gegen KZ-Wärter, denn auch in KZs starben die Gefangenen in großer Zahl infolge der Haftbedingungen.
Richterin Anke Gunda
Ungewöhnlich deutlich ging die Richterin auf das Versagen der bundesdeutschen Justiz nach dem Krieg ein. Damals hätten sich Politik, Justiz und Gesellschaft nicht mit den Geschehnissen beschäftigen wollen, sagte sie. „Statt als Täter sahen sich die Deutschen als Opfer.“ Es sei das Mindeste, was die Justiz den Überlebenden schuldig sei, die Täter zu verfolgen.
Die Staatsanwaltschaft hatte für Hanning sechs Jahre Haft verlangt, die Verteidigung auf Freispruch plädiert. Sie will in jedem Fall Rechtsmittel einlegen und eine Revision prüfen. Ob Hanning tatsächlich die Haft antreten muss, ist noch offen.
Und Leon Schwarzbaum, der Auschwitz-Überlebende? Er nennt das Urteil „gerecht“.
Seit Jahren war bei Auschwitz-Prozessen immer wieder die Rede davon, das jeweilige Verfahren könnte das „allerletzte“ gewesen sein. Mit dem Detmolder Prozess könnte nun tatsächlich der Schlusspunkt erreicht sein. Einem weiteren Verfahren in Neubrandenburg droht die Einstellung, das Landgericht Kiel musste die Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten zur Kenntnis nehmen. Und in Hanau starb der angeklagte ehemalige SS-Wachmann nur wenige Tage vor Prozessbeginn. Das biologisch bedingte Ende der NS-Prozesse infolge des Alters der Verantwortlichen naht.
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