Ausblick 2009: "Schulformen sind sekundär"
Der frühere Gymnasiallehrer Klaus Lehnert hilft mit, aus Berlins einst berüchtigtster Hauptschule das Vorzeigeprojekt "Campus Rütli" zu machen. Wichtig ist für ihn, dass jedes Kind optimal gefördert wird - egal ob in Gemeinschaftsschule oder Gymnasium.
taz: Herr Lehnert, bis vor kurzem leiteten Sie ein Gymnasium, nun bauen Sie eine Gemeinschaftsschule mit auf - mit wie viel Herzblut?
Klaus Lehnert: Wenn ich nicht mit Überzeugung dabei wäre, würde ich das nicht machen und könnte es auch nicht. Die Gemeinschaftsschule ist ja nur ein Teil des Projekts Campus Rütli, das noch viel mehr beinhaltet.
KLAUS LEHNERT, 66, ehemals Direktor des renommierten Albert-Einstein-Gymnasiums in Britz, ist heute Pädagogischer Leiter des Projekts "Campus Rütli" im Neuköllner Norden.
Alle wünschen einen guten Rutsch und ein frohes neues Jahr. Was aber bringt 2009 wirklich? Die taz fragt die, die es wissen müssen. Heute geht es um die Frage, ob die neuen Gemeinschaftsschulen wie Campus Rütli funktionieren und einen Ausweg aus der Bildungsmisere bieten können. Und es geht darum, ob man trotzdem am mehrgliedrigen Schulsystem inklusive Gymnasien festhalten kann oder soll - wie es Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) möchte. Er muss in den kommenden Wochen seine Vorstellungen zur Schulstrukturreform dem Abgeordnetenhaus vorlegen.
Morgen folgt dann ein Ausblick auf das Gedenkjahr 2009, in dem in Berlin zahlreiche Jahrestage, darunter 20 Jahre Mauerfall, begangen werden.
Von den Gymnasien aus wird die neue Schulform ja eher kritisch betrachtet.
Wir haben in Deutschland ein Schulsystem, das gewachsen ist. Eltern möchten ihre Kinder oft lieber auf dem Gymnasium als auf anderen Schulformen unterbringen. Ich denke, wer sich mit Schule beschäftigt, tut gut daran, das zu berücksichtigen.
Sie sind aber für die Gemeinschaftsschule?
Mir gefällt die Idee, alle Kinder so zu fördern, dass ihre eigenen Anlagen entwickelt werden und sie so zu optimalen Ergebnissen kommen. Das geschieht aber nicht nur an der Gemeinschaftsschule, sondern auch an anderen Schulen.
Da sind Sie einer Meinung mit unserem Bildungssenator.
Ob die Gemeinschaftsschule die ideale Schule für alle Fälle ist, weiß ich nicht. In den skandinavischen Ländern gibt es eine andere historische Entwicklung und deshalb einen anderen gesellschaftlichen Konsens als bei uns.
Ist das ein Plädoyer für die Bildungshoheit der Länder oder für das mehrgliedrige Schulsystem?
Kinder so zu fördern, wie es ihren Anlagen entspricht, ist ja nicht nur die Maxime der Gemeinschaftsschule. Im Zuge der Bildungsreform der Siebzigerjahre hat sich das Gymnasium, das sich damals bewusst für Kinder aus allen Bevölkerungsschichten öffnete, auch verändert, verändern müssen - und dabei nicht an Qualität verloren. Für die Situation im Neuköllner Norden ist die Gemeinschaftsschule aber ein sehr guter Ansatz. Sie kann Nachteile ausgleichen, die das Aufwachsen in einem sozialen Brennpunkt mit sich bringt. Wie etwa bildungsferne Elternhäuser.
Sie glauben also, dass Schule das ausgleichen kann?
Schule muss und kann Kinder, mit entsprechenden Anlagen auch ohne aktive Unterstützung der Eltern bis zum Abitur bringen. Natürlich ist es leichter, wenn die Eltern mitmachen. Aber es reicht schon, wenn sie den Bildungsgang ihrer Kinder dadurch fördern, dass sie ihn wertschätzen. Wenn sie das Kind lernen lassen und ihm den dafür notwendigen Freiraum gewähren. Sie müssen nicht unbedingt mit dem Kind Hausaufgaben machen. Das kann man im Schulgesetz nachlesen: Die Verantwortung liegt bei der Schule. Und die muss dieser Verantwortung gerecht werden. Schule leistet das ja auch tausendfach. Manchmal ist sie aber auch überlastet.
Wie es die Rütlischule einst war. Was wird am Campus Rütli anders?
Das Faszinierende am Campus ist, dass die Bildungskarriere hier mit dem Eintritt in die Kita beginnt. Dann folgt der barrierefreie Übergang in die Grund- und später in die Oberschule. Wenn diese Übergange glatter laufen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch der Übergang ins Berufsleben oder die Oberstufe gelingt. Mir gefällt außerdem, dass hier Schule nicht nach der zehnten Klasse ihre Verantwortung abgibt, sondern den Absolventen eine Fortsetzung der Bildung ermöglichen will.
Wie machen Sie das?
Wir bemühen uns um Kooperationen mit der Wirtschaft - nicht nur, um dem einen oder anderen zu einem Praktikum zu verhelfen. Sondern auch, um zu erfahren, was Wirtschaft und Industrie, der Handel von einem Absolventen erwarten: Wie muss er schulisch ausgebildet werden, damit er ausbildungsfähig ist für einen Betrieb. Die Antwort auf diese Frage fließt dann in die eigene schulische Arbeit ein.
Bildung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes anzupassen: Kollidiert das nicht mit dem Bildungsideal des Gymnasialdirektors?
Natürlich ist Bildung wichtig, die nicht nur auf Ausbildung für einen Beruf zielt, sondern Persönlichkeit entwickelt und die Kultur einer Gesellschaft vermitteln kann. Die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli wird deshalb den musikalischen Schwerpunkt der beteiligten Grundschule in der Oberschule fortsetzen. Ein künftiger Broterwerb muss aber mitgedacht werden. Wenn man das so ganzheitlich sieht, kollidiert das nicht mehr. Dann wirkt es sich idealerweise vielleicht so aus, dass auch die Arbeitswelt den Menschen mit sieht und nicht nur seinen ökonomischen Wert. Ich hätte gerne Menschen, die so gebildet sind, dass sie kritisch und kritikfähig die Schule verlassen und in der Lage sind, in der Welt Fuß zu fassen. Und zu einem selbstbestimmten Leben gehört nun mal auch die Möglichkeit, einem Broterwerb nachzugehen.
Vor drei Jahren kapitulierte das Kollegium der Rütlischule vor Schülern, die nicht mehr zu bändigen waren. Was machen Sie jetzt anders?
Zunächst ist die Gemeinschaftsschulidee erst in den siebten Klassen umgesetzt - wenn wir auch versuchen, auch die höheren Klassen an den Veränderungen teilhaben zu lassen. In den Klassen der Gemeinschaftsschule arbeiten wir mit heterogenen Lerngruppen aller Oberschulempfehlungen. Die erforderliche Leistungsdiffereinzierung ist mit Frontalunterricht nicht zu leisten. Stattdessen erarbeiten Schüler sich in kleinen Gruppen Unterrichtsinhalte selbst - mit dem Lehrer als Lernpartner.
Das reicht, um aus wilden Rütlischülern friedliche wissbegierige Kinder zu machen?
So einfach ist es nicht, aber auch nicht so schwer. Schüler erwarten, wenn sie in die Schule gehen, Unterricht. Generell wollen Schüler etwas lernen, auch wenn sich jeder Schüler einmal freut, wenn hitzefrei ist oder Unterricht ausfällt. Aber wenn ein Lehrer einen zweiten oder dritten Tag fehlt, werden Schüler nervös, weil sie wissen, dass die nächste Klassenarbeit kommt oder die Versetzung bevorsteht. Schule muss funktionieren, verlässlich sein. Sonst werden Schüler unleidlich. Natürlich gibt es schwierige Schüler, deren Verhalten den Lehrern die Arbeit schwer oder gar unmöglich macht. Doch auch da bietet Campus Rütli Hilfen: Hier sind Sozialarbeiter und interkulturelle Moderatoren, hier ist das Jugendamt, es gibt Kooperationen mit Projekten und Schulen, die sich solchen Schülern in ganz besonderem Maße widmen. Aber letzten Endes wollen die Schüler, die zur Schule kommen, lernen. Und sie lernen gern, wenn sie sich mit ihrer Schule zu identifizieren beginnen und sie als Lebensraum empfinden.
Campus Rütli bekommt große moralische Unterstützung - aber wie ist es mit der praktischen? Reicht die?
Ja. Wenn man bedenkt, dass Möglichkeiten an der Realität ihre Grenzen finden, dass manches nicht so schnell und manches nicht wie gewünscht sofort geht.
Wo haperts denn?
Eigentlich gar nicht. Die Entwicklung des Campus begann erst vor einem Jahr und geht seither Schritt für Schritt weiter, auch wenn man an der Rütlistraße noch keine Bagger sieht. Die wesentliche Veränderung geschieht im Innern. Aber auch baulich geht schon einiges voran: etwa die Einrichtung einer Mensa, um den Ganztagsbetrieb zu ermöglichen, außerdem steht an, dass die naturwissenschaftlichen Fachräume und auch die für Kunst und Musik zeitgemäß erneuert werden. Die Räumung des großen Gewerbegebietes steht unmittelbar bevor, so dass es bald zu ersten Neubauten kommen kann.
Wie ist es denn mit den Eltern und den Schülern: Finden die das Projekt auch gut?
Wir konnten in diesem Jahr vier siebte Klassen aufmachen. Es sind also genügend Anmeldungen da. Perspektivisch soll die Schule in der Mittelstufe fünfzügig werden.
Haben Sie Kinder mit Gymnasialempfehlung am Campus?
Es gibt in der siebten Jahrgangsstufe genau ein Kind mit Gymnasialempfehlung. Und die Rückmeldungen sind durchaus positiv: Die Eltern haben nicht das Gefühl, ihr Kind an der falschen Schule angemeldet zu haben.
Können Sie Kinder überhaupt ausreichend in Richtung Abitur fördern? Ihre Lehrkräfte sind Haupt- und Realschullehrer - oder haben Sie auch Studienräte dabei?
Es ist nicht unüblich, dass an Realschulen auch Studienräte arbeiten. In Berlin war und ist es ja immer möglich, mit einem guten Realschulabschluss oder jetzt Mittleren Schulabschluss in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln. Das ist für das Kollegium also nicht fremd und nichts, was erst jetzt mit der Gemeinschaftsschule anders wird.
Würden Sie Eltern heute zuraten, ihre Kinder zur Gemeinschaftsschule zu schicken?
Ja. Wenn aber Eltern der festen Meinung sind, dass diese Schulform in dieser frühen Phase für ihr Kind nicht die hinreichende Förderung und bei einer Gymnasialempfehlung auch nicht die hinreichende Forderung bedeutet, dann weiß ich, dass ich ihr Urteil nicht ändern werde. Da könnte ich mit Engelszungen reden. Im Grunde erscheint mir die Diskussion über Schulformen aber sekundär. Wichtig ist, dass alle Kinder optimal gefördert werden. Genau das geschieht in der Gemeinschaftsschule des Campus Rütli.
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