piwik no script img

Ausbildungsstart in BerlinUngewollte Zukunft

Berlin geht mit dem Fachkräftenachwuchs stiefmütterlich um. Bildungspolitische Maßnahmen lösen die Krise bisher nicht.

Ungewisser Blick in die Zukunft: Schü­le­r:in­nen der Rütli-Schule in Neukölln Foto: Jens Gyarmaty / laif

Berlin taz | Tausende Jugendliche sind zu unfähig, um die Anforderungen an einen Ausbildungsplatz zu erfüllen – so, etwas zugespitzt, lässt sich das Ergebnis der am Montag veröffentlichten Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) zusammen fassen. Das Resultat ist nicht überraschend, kommt die IHK doch fast jedes Jahr zu demselben Schluss und gibt entsprechende Handlungsempfehlungen: Bessere Kompetenzvermittlung und mehr Berufsberatung an den Schulen, dann klappt es auch mit der Vermittlung von Ausbildungsplätzen.

Doch ein Blick auf die Ursachen von Berlins Ausbildungskrise zeigt: Die Erzählung der ungebildeten Problemjugendlichen als Ursache für die Ausbildungskrise greift zu kurz. Viele Be­wer­be­r:in­nen sind motiviert und fähig, finden aber trotzdem keinen Ausbildungsplatz. Auch Unternehmen müssen sich öffnen, wenn sie dem Fachkräftemangel in Zukunft etwas entgegensetzen wollen.

Laut der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Zahlen gibt es zu Beginn des Ausbildungsjahres immer noch 4.548 unbesetzte Ausbildungsplätze und 7.824 Jugendliche, die noch auf der Suche nach einer Stelle sind.

Volkswirtschaftlich ist angesichts des sich verschärfenden Fachkräftemangel jeder unbesetzte Ausbildungsplatz einer zu viel. Die IHK selbst prognostiziert, dass es in Berlin bis 2035 über 163.000 unbesetzte Stellen geben könnte. Dabei sind es gerade Ausbildungsberufe, die die Stadt am Laufen halten: Pflegekräfte, Erzieher:innen, Busfahrer:innen, Me­cha­tro­ni­ke­r:in­nen und Handwerker:innen. „Wir stecken in einer Ausbildungskrise, die schon seit Jahren anhält“, sagt die Grüne Bildungspolitikerin Tonka Wohjan.

Ausbildungsplatzumlage

Was ist das überhaupt?

Ein solidarisches Finanzierungssystem. Alle Berliner Unternehmen zahlen einen festgelegten Betrag in einen Fonds ein, aus dem die Kosten für die Berufsausbildung gezahlt werden. Bis Ende 2025 sollen so 2.000 zusätzliche Ausbildungsverträge unterschrieben werden.

Was ist die Kontroverse?

Wer keinen Ausbildungsplatz anbietet, macht durch die Umlage Verlust. Deshalb sind nicht alle davon begeistert, etwa die IHK. Wird das Ziel der zusätzlichen Ausbildungsplätze nicht erreicht, will der Senat die Ausbildungsplatzumlage 2026 gesetzlich festlegen.

Viel Müh für nix

Belastend ist die Situation auch für ausbildungswillige Jugendliche. Sie kriegen häufig nicht einmal Absagen und seien mit unrealistischen Erwartungen konfrontiert, zeigte eine am Freitag veröffentlichte Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes. „Allgemein ist es ermüdend, wenn kein Erfolg in Sicht ist und nur automatisierte Antworten kommen ohne die richtigen Gründe und Feedback, woran es gelegen hat“, zitiert die Studie einen Teilnehmer.

Umso erstaunlicher ist, warum die Unternehmen nicht ausbilden. Laut der IHK-Umfrage gaben 39 Prozent der Unternehmen an, nicht alle Stellen besetzt zu haben. Der Hauptgrund war für 60 Prozent, dass keine geeigneten Bewerbungen vorlägen. In einem Viertel der Fälle wurden die Verträge durch die Unternehmen aufgelöst.

Die Ursache für den großen „Mismatch“ sieht die IHK im mangelnden Bildungssystem. Der Senat müsse sich mehr auf die Vermittlung von Basiskompentenzen wie Rechnen, Lesen und Schreiben konzentrieren, um die Jugendlichen Ausbildungsreif aus der Schule zu entlassen.

Doch an den Schulen schlägt ebenfalls die Kürzungspolitik der letzten Jahre durch. Aus einer Anfrage der Linken geht hervor, dass von rund 4.200 benötigten voll ausgebildeten Lehrkräften zum kommenden Schuljahr lediglich 695 eingestellt wurden. „Darunter leidet selbstverständlich auch die Bildungsqualität“, sagt Bildungspolitikerin Franziska Brychcy (Linke). Die Gewerkschaft Erziehung und Wirtschaft (GEW) prophezeit mehr Vertretungen, weniger Unterricht und eine steigende Belastung der Lehrkräfte. Derweil sieht der neue Haushaltsentwurf Kürzungen bei der Grundfinanzierung der Hochschulen und bei den Sondermitteln für Lehrkräftebildung vor.

Unorientierte Schüler

Auch das 11. Pflichtschuljahr, das am Mittwoch startet, dürfte keine Abhilfe schaffen. Demnach müssen alle Jugendliche, die die 10. Klasse ohne Abschluss verlassen – jedes Jahr sind das um die 3.000 – noch ein weiteres, berufsorientierendes Jahr in sogenannten „Ankerschulen“ absolvieren. Das sind Oberstufenzentren (OSZ), in denen sich die Jugendlichen praxisorientiert auf eine Ausbildung vorbereiten sollen.

Doch wenige Tage vor Beginn gibt es mit dem elften Pflichtschuljahr noch zahlreiche Probleme. Vielen Schulen seien mehr Schü­le­r:in­nen zugeteilt worden, als sie überhaupt Kapazitäten haben, berichtet Ronald Rahmig, Vorsitzender der Vereinigung der Leitungen berufsbildender Schulen in Berlin. „Das Hauptkriterium war scheinbar, dass die Schüler formal versorgt sind“, sagt er. Zusätzliche Lehrkräfte für den Mehrbedarf haben die Oberstufenzentren nicht bekommen.

Auch kämen viele der Pflichtschüler völlig unorientiert aus der Schule, während die Oberstufenzentrum gezielt auf spezifische Branchen, wie Mechatronik, Gastronomie oder Pflege vorbereiten, kritisiert Rahmig.

Praktikabler wäre für Unternehmen auch bislang „ungeeignete“ Be­wer­be­r:in­nen einzustellen – das heißt auch solche mit zu schlechten Noten, Fehltagen oder einem Kopftuch. In der DGB-Umfrage gaben 40 Prozent der Befragten an, während der Ausbildungsplatzsuche Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Ein anderer Teilnehmer gab an, bei einem Einstellungstest die letzte Novelle des Pflegeberufsgesetzes wiedergeben zu müssen.

Nicht zuletzt hängt die Attraktivität vom Geld ab. Viele Jugendliche können sich vom Azubi-Gehalt keine Wohnung leisten und gehen lieber gleich jobben. Fast 60 Prozent gaben in der DGB-Umfrage an, dass ein gutes Gehalt wichtig sei – weit vor allem anderen. Bildungspolitikerin Tonka Wohjan fordert neben der Ausbildungsumlage daher auch ein „Azubi-Werk“, das günstigen Wohnraum bereitstellt. „Viele Azubis würden gerne in Berlin bleiben, können es sich aber nicht leisten.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare