Ausbeutung bei Discounter Netto: 1.000 unbezahlte Überstunden
Ein Fillialleiter packt aus: Beim zweitgrößten Discounter-Unternehmen Netto werden unbezahlte Überstunden systematisch einkalkuliert. Der Discounter spricht von "Einzelfällen".
Es gibt Tage, da kann Joachim Schulz nicht mehr. Der Mann, der aus Angst, arbeitslos zu werden, seinen richtigen Namen nicht nennen will, hat im zurückliegenden Jahr mehr als 1.000 Überstunden geleistet. Unbezahlte Überstunden. "Ich arbeite jeden Tag mindestens 12 Stunden", sagt Schulz, der für einen Discountmarkt in einer Stadt in Sachsen-Anhalt verantwortlich ist. "Es gibt 13-, 14-, 15-Stunden-Tage, teilweise von 5 bis 21.30 Uhr." "Sittenwidrig" und "kriminell" sei es, wie sein Arbeitgeber mit seinen Mitarbeitern umgehe.
Sein Arbeitgeber, das ist die Netto Marken-Discount AG & Co. KG mit Hauptsitz im bayerischen Ponholz. Kein anderes Unternehmen der Discounterbranche hat in den vergangenen Jahren so stark expandiert. Im Jahr 2005, als Netto von der Edeka-Gruppe übernommen wurde, begann das Wachstum. Zuerst übernahm Netto 2007 den Discounter Kondi. Und im vergangenen Jahr erlaubte das Kartellamt die Übernahme des Konkurrenten Plus. Inzwischen gibt es fast 3.800 Netto-Filialen in Deutschland. Mehr Märkte haben nur Aldi Nord und Aldi Süd zusammen. Die Leidtragenden dieses rasend schnellen Wachstums sind die Mitarbeiter.
ALDI Erste Filiale: 1913; 1962 Aufteilung in Aldi Nord und Aldi Süd Filialen: knapp 4.300 in Deutschland, weitere 3.700 Niederlassungen in 14 Ländern Umsatz 2007: 40 Mrd. Euro, davon 24 Mrd. Euro im Inland Mitarbeiter im Inland: k. A. Firmensitz: Essen (Aldi Nord), Mülheim an der Ruhr (Aldi Süd) Sortiment: zirka 800 Artikel
LIDL Erste Filiale: 1973 Filialen: etwa 3.000 im Inland, über 5.000 weitere Niederlassungen in 23 Ländern Umsatz 2007: 50 Mrd. Euro, davon 24 Mrd. in Deutschland Mitarbeiter im Inland: 45.000 Firmensitz: Neckarsulm (Baden-Württemberg) Sortiment: zirka 1.500 Artikel
NETTO Erste Filiale: 1971 Filialen: knapp 3.800 in Deutschland (seit der Plus-Übernahme) Umsatz 2007: 37,8 Mrd. Euro, davon 35,8 Mrd. im Inland (gesamte Edeka-Gruppe) Mitarbeiter im Inland: 42.000 (seit der Plus-Übernahme) Firmensitz: Ponholz (Bayern) Sortiment: ca. 3.600 Artikel
Im Netto-Markt von Joachim Schulz werden unbezahlte Überstunden nach Feierabend sogar schriftlich angeordnet. An der Bürotür oder in Arbeitsordnern stünden Anweisungen an das Personal, Sonderaktionsregale umzuräumen und umzuetikettieren, erzählt Schulz. Diese Anordnungen verstoßen gegen geltendes Recht, meint Arbeitsrechtler Wolfhard Kothe "Wenn Überstunden einkalkuliert sind, dann ist es rechtwidrig, wenn sie nicht bezahlt werden." Filialleiter Schulz zückt den Taschenrechner und tippt Zahlen ein. "Wenn man das umrechnet - alle Überstunden im Jahr -, dann sind das vier, fünf Euro Stundenlohn." Laut Arbeitsvertrag stehen ihm mehr als acht Euro netto zu. "Man ist der letzte Arsch im Unternehmen", sagt er mit schiefem Lächeln.
Gewerkschafter beobachten bei Netto immer häufiger Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, aber auch katastrophale Arbeitsbedingungen. Diese Discounterkette gehöre momentan zu den "schlimmsten" der Branche, sagt Jörg Lauenroth-Mago, Ver.di-Fachbereichsleiter für den Handel. Netto weigert sich, die Tarifverträge des Einzelhandels zu akzeptieren. Es zahlt Löhne "in Anlehnung an die Verträge". "Für die betroffenen Kolleginnen, das sind hauptsächlich Frauen, führt das häufig dazu, dass sie quasi für die Hälfte des Geldes arbeiten, das ihnen zusteht", sagt Lauenroth-Mago.
Netto weist die Vorwürfe zurück. Es sei Unternehmensmaxime, jede Überstunde zu bezahlen, beteuert die Pressesprecherin Christina Stylianou. Sie sei "entsetzt" sagt sie, als sie mit diesen Berichten konfrontiert wird, um sie schnell zu "Einzelfällen" zu erklären. Mitarbeiter, die betroffen seien, sollten sich an die Unternehmenszentrale wenden, um "das aufzuklären". In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es ergänzend, Autos oder Spinde der Mitarbeiter würden nur bei "dringenden Verdachtsmomenten eines Warendiebstahls" und nur in Anwesenheit und mit Zustimmung des Betroffenen durchsucht. Zudem hätten Marktleiter und deren Stellvertreter ein höheres Arbeitsvolumen als Kassierer und würden "daher mit einer monatlichen übertariflichen Extra-Zulage abgegolten". Eine Extra-Zulage hat Joachim Schulz nie bekommen. Und wovon bei Netto keine Rede ist: Netto verankert die Ausbeutung seiner Mitarbeiter durch Überstunden häufig schon im Arbeitsvertrag. So hat Joachim Schulz einen Vertrag über eine 38-Stunden-Woche unterschrieben. "Der Arbeitnehmer verpflichtet sich, Überstunden im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu leisten", heißt es in dem der taz vorliegenden Papier. "Durch die Planung des Gehalts" seien alle Überstunden abgegolten.
Netto ist kein Einzelfall. Die Gewerkschaft Ver.di erhält regelmäßig Anrufe von Mitarbeitern bei Lidl, Penny, Norma und anderen Discountern, manchmal auch von entnervten Ehepartnern, sagt Lauenroth-Mago. Meist klagten die Anrufer über Überstunden. Dabei ist die gesetzliche Lage klar, weiß Wolfhard Kothe, Arbeitsrechtler an der Universität Halle. Es verstößt gegen das Arbeitszeitgesetz "regelmäßig mehr als zehn Stunden Arbeit pro Tag zu verlangen". Alles, was darüber hinausgehe, müsse vergütet werden.
Auch im sachsen-anhaltischen Landesamt für Verbraucherschutz melden sich oft erschöpfte Verkäuferinnen und Verkäufer. Das Amt, das Verstöße gegen die Arbeitszeit ahndet, schickt stichprobenartig Kontrollen zu Discountern, sagt der zuständige Fachbereichsleiter Günter Laux. Die Namen der Märkte, in denen am häufigsten Gesetzesverstöße festgestellt werden, darf Laux nicht nennen. Er hat in den vergangenen zwölf Monaten Bußgelder über drei große Discounter verhängt. "Schichtpläne und Aufzeichnungen werden getürkt. Die Leute werden verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren. Und es wird Angst erzeugt", sagt Laux.
Wie diese Angst erzeugt wird, das hat im Februar der "Tatort" "Kassensturz" vor Augen geführt: In der Discounterhierarchie werden Druck, Stress und Frustration von oben nach unten weitergegeben: Der Geschäftsführer hat Angst vor dem Vorstand, der Gebietsleiter vor dem Geschäftsführer und die Kassiererin vor dem Gebietsleiter. Im "Tatort" führte das zu einem Mord, in der Realität etwa zu den Lidl-Affären: Erst vor wenigen Wochen hatte Lidl eingestehen müssen, geheime Krankenakten über seine Beschäftigten geführt zu haben. Das Unternehmen protokollierte sogar, wer psychische Probleme hat oder sich künstlich befruchten ließ, um schwanger zu werden. Vor einem Jahr beherrschte der Lidl-Bespitzelungsskandal die Schlagzeilen. Lidl hatte seine Mitarbeiter durch Detekteien überwachen lassen, die selbst den Gang zur Toilette notierten.
Bei Netto ist es ähnlich. Joachim Schulz weiß, dass misstrauische Gebietsleiter heimlich Spinde der Mitarbeiter kontrollieren. Einmal wurde er spätabends aufgefordert, sein Auto zu öffnen. "Der wollte sehen, ob ich Sachen geklaut habe. Er hat mein Auto durchsucht, nichts gefunden und einen schönen Feierabend gewünscht." Mitarbeiter, die in Ungnade gefallen sind, müssen mit Fiesheiten rechnen. Ein Gebietsleiter habe da seine "Mittel", erzählt Joachim Schulz. "Zum Beispiel, dass er tagtäglich Inventuren anordnet. Diese Inventuren nehmen ein, zwei Stunden in Anspruch. Nach Feierabend natürlich."
Kaum ein Mitarbeiter traut sich, öffentlich über die Arbeitsbedingungen bei Lidl, Netto & Co. zu reden. Zu groß ist die Angst, den Job zu verlieren. Anonym tauschen sich Verkäuferinnen in Internetforen wie hilferuf.de, wiwi-treff.de oder halleforum.de aus. Dort heißt es: "Ich habe die letzten 2 Jahre fast 2.000 Stunden umsonst arbeiten müssen und ich bin mit Sicherheit keine Ausnahme."
Mehr Arbeit mit weniger Personal - das lässt sich mit einem Blick in die Datenbank des Bundesamts für Statistik in Wiesbaden belegen: Die Zahl der Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel ist seit 1998 um etwa ein Drittel gesunken. Mehr als jede dritte Vollzeitstelle wurde ersatzlos gestrichen. Zugleich eröffnen die Discounter aber allerorten neue Filialen. Lidl hat laut seiner Homepage allein in diesem April fünf neue Filialen eingeweiht. Der Netto-Website ist zu entnehmen, dass der Discounter künftig pro Jahr bis zu 150 neue Märkte eröffnen will.
Um Personalkosten zu sparen, beschäftigen Discounter immer öfter sogenannte Auspackhilfen, meist Hartz-IV-Kräfte, ohne schriftlichem Arbeitsvertrag, die sich ein paar Euro dazuverdienen wollen. Im Netto-Markt von Schulz arbeiten "vier, fünf Festangestellte und zehn bis zwölf Aushilfen". Vom Umräumen der Regale bis zum Kassieren erledigen diese Auspackhilfen alle Arbeiten, sagt Schulz. "Auch von ihnen wird verlangt, dass sie ein, zwei Stunden pro Tag umsonst länger machen. Die machen das mit, um vielleicht später mal ein Festangestelltenverhältnis zu kriegen."
Auspackhilfen verdienen in Discountmärkten meist rund 5 Euro pro Stunde. Schulz bestätigt das. Dabei kümmert es die Discounter wenig, dass deutsche Arbeitsgerichte die Zahlung von derart niedrigen Löhnen als "Lohnwucher" einstufen. Erst vor einem Monat hatten im Ruhrgebiet zwei Packerinnen des Textildiscounters KiK mit ihrer Klage Erfolg. Das Landesarbeitsgericht Hamm urteilte, ihr Stundenlohn von 5,20 Euro brutto sei "sittenwidrig". KiK muss den Frauen insgesamt 19.400 Euro nachzahlen. Ein halbes Jahr zuvor hatte das Landesarbeitsgericht Bremen im Fall einer Auspackhilfe, die 5 Euro verdient hatte, ähnlich entschieden.
Als Marktverantwortlicher hat Schulz seine Vorgesetzten hin und wieder auf den Feierabend hingewiesen. "Da kommt als Antwort: ,Dann müssen Sie sich besser organisieren, das ist nicht meine Schuld.' " Schulz kauft kaum noch in Discountermärkten ein. Er empfiehlt: "Einfach die Kassiererin fragen, wie die Arbeitsbedingungen sind. Und nicht immer nur auf die Preise achten."
Die Kassiererin fürchtet den Geschäftsführer, der fürchtet den Gebietsleiter, und der fürchtet den VorstandAls "sittenwidrig" befand ein Gericht die Stundenlöhne von 5,20 Euro brutto beim Textildiscounter Kik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Linke gegen AfD und BSW
Showdown in Lichtenberg
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten