Aus eigener Kraft gebären: Mama ist nicht schuld
Zu alte, zu ängstliche Mütter: So wurde lange die hohe Kaiserschnittrate begründet. Dabei entscheiden Ärzte, wie ein Kind zur Welt kommt
BREMEN taz | Das Plakat zeigte den Bauch einer tätowierten Schwangeren und darüber den Schriftzug „Ich lasse mich nur stechen … nicht schneiden“. Mit diesem und zwei weiteren Motiven warb in Bremen im vergangenen Jahr ein landesweites Bündnis für die Förderung der „natürlichen Geburt“, wie es auf dem Plakat hieß. Der Hintergrund ist die hohe Kaiserschnittrate in Deutschland. 20 Jahre stieg sie jedes Jahr ein wenig mehr, bis sie seit 2012 auf hohem Niveau stagniert. 31,8 Prozent aller Gebärenden landeten im Jahr 2014 durchschnittlich auf dem Operationstisch. Im Land Bremen waren es gerade mal drei Prozentpunkte weniger.
Zu viel, fand in Bremen die Landesfrauenbeauftragte, die mit dem Gesundheitssenator, den Chef- und OberärztInnen aller fünf Geburtshilfe-Kliniken, dem Berufsverband der niedergelassenen GynäkologInnen, dem Hebammenverband sowie VertreterInnen von Versicherungen 2012 ein bundesweit einmaliges Bündnis gründete. Dieses erarbeitete Empfehlungen, wie wieder mehr Frauen Kinder aus eigener Kraft gebären können. Sie richten sich an diejenigen, die dazu wirklich beitragen können: an GesundheitspolitikerInnen, KlinikmanagerInnen, ÄrztInnen und deren Berufsverbände.
Doch wie andere Anti-Kaiserschnitt-Kampagnen zuvor vermittelte sie mit den Plakaten etwas anderes: Dass die Frauen einfach wieder Vertrauen in die eigenen Gebärkräfte gewinnen müssen. „Lass dich darauf ein und erlebe!“ war ein Plakat des Frauenministeriums Baden-Württemberg überschrieben, darunter das Foto einer schwangeren Frau, die sich den Bauch hält. Darauf gepinselt: „Lass mir bitte meine Zeit, Mama“.
Große regionale Unterschiede
Verlangt also jede Dritte einen Kaiserschnitt – und bekommt ihn auch? Entscheidet Mama über den Geburtsmodus?
Und wie passen in dieses Bild die großen regionalen Unterschiede? Die gibt es nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland. In Europa schwankt die Sectio-Rate zwischen 14,8 und 52,2 Prozent. In Deutschland hatte zwischen 2010 und 2012 mit 51,54 Prozent Landau in der Pfalz die höchste Rate, Dresden mit 17,46 Prozent die niedrigste. Sind die Landauerinnen ängstlicher als die Dresdnerinnen? „Ostdeutsche Frauen neigen viel seltener zum Kaiserschnitt“, behauptet die Zeit.
Oder neigen vielleicht manche Ärzte seltener zum Kaiserschnitt als ihre KollegInnen?
Gerd Ortmeyer, Arzt im UKE
Diese These vertritt die Gesundheitswissenschaftlerin Petra Kolip, die sich so gut mit dem Thema auskennt wie niemand in Deutschland. Dass die medizinische Praxis die entscheidende Rolle spielen muss, lässt sich schon daran erkennen, dass nur in einem von zehn Fällen eine absolute Indikation für einen Kaiserschnitt besteht; eine, bei der die Ärztin schneiden muss, um nicht Leben zu gefährden. Bei den anderen neun wäre eine vaginale Geburt möglich – und mithin sogar von der Fachgesellschaft für Geburtshilfe empfohlen wie bei dem sogenannten Zustand nach Sectio. Doch mit einem Fünftel ist der häufigste Grund für einen Kaiserschnitt: ein vorangegangener Kaiserschnitt.
Fast genau so oft fällt ein Arzt die Entscheidung aufgrund eines CTGs, aus dem er schlechte Herztöne des Kindes abliest. Die CTG-Interpretation unterliegt aber seiner subjektiven Bewertung – ebenso wie die Frage, wann eine Geburt sich sehr lange hinzieht und abgebrochen werden sollte. Letzteres ist der dritthäufigste Grund für einen Kaiserschnitt.
Es liegt nicht an den Frauen
Das alles ist kein Geheimwissen. Es findet sich in den Tabellen, die das Aqua-Institut zur Qualitätssicherung in der Geburtshilfe jährlich veröffentlicht. Petra Kolip, Professorin für Gesundheitsförderung an der Universität Bielefeld, hat die Zahlen ergänzt um Daten des Statistischen Bundesamts sowie um eigene Untersuchungen. Dafür hat sie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung Daten und freiwillige Angaben von 90.000 Versicherten der Barmer GEK ausgewertet. Vor drei Jahren hat sie ihre Erkenntnisse veröffentlicht.
Kolip widerlegt alle gängigen Thesen zur Ursache der vielen Schnittentbindungen. Nach denen liegt es an den Frauen – zu verkopft, zu dick, zu alt – und ihren Kindern – zu groß, zu viele. Kolip aber zeigt, dass nicht, wie oft behauptet, die alten, sondern verstärkt die jungen Frauen per Kaiserschnitt entbunden werden. Und dass Neugeborene – noch so ein selbst unter ÄrztInnen und Hebammen verbreiteter Mythos – heute nicht mehr wiegen als vor 20 Jahren.
Tatsächlich kamen 1991 anteilig etwas mehr Kinder mit einem Geburtsgewicht über 4.000 sowie einem über 4.500 Gramm zur Welt als 2012. Auch seien Mehrlingsschwangerschaften nicht so viel häufiger, dass sie eine Erklärung für die vielen Sectionen liefern, schreibt Kolip. Dasselbe gelte für die Zunahme an übergewichtigen Schwangeren.
Auch für ein anderes geläufiges Erklärungsmodell konnte Kolip keine Belege finden. Danach sollen Kliniken Kaiserschnitte geradezu von ihren Angestellten fordern, weil sie doppelt so viel Geld von den Kassen für sie bekommen wie für normale Geburten. Diese Rechnung gehe nicht auf, sagt die Wissenschaftlerin, weil Technik, OP-Personal und längere Liegezeiten bezahlt werden müssen. Gleichwohl könnte die bessere Planbarkeit eines Kaiserschnitts einen Anreiz darstellen, gerade in unterbesetzten Abteilungen und solchen, denen es an Routine im Umgang mit komplizierten Fällen mangelt.
Bleibt der sogenannte Wunschkaiserschnitt. Nicht wenige Chefärzte erklären die hohe Rate ihrer Klinik damit, dass sich viele Frauen eine spontane Geburt nicht mehr zutrauen. Das beobachten selbst Ärzte und Hebammen, die die steigende Rate sehr kritisch sehen. Diese sagen aber auch, dass es letztendlich an ihnen liegt, die Angst zu nehmen. Oder durch eine andere Schwangerenvorsorge gar nicht erst aufkommen zu lassen. Eine, die der Frau das Gefühl vermittelt, „dass die Geburt ein gesunder Prozess ist – und Risiken die Ausnahme sind“, wie es in den Bremer Empfehlungen zur Unterstützung der natürlichen Geburt heißt.
Es ist schwer zu ermitteln, wie viele Frauen die Entscheidung alleine getroffen haben und nicht beeinflusst waren durch einen Arzt, der vor oder während der Geburt gesagt hat, ein Kaiserschnitt könnte besser sein. Wie viele werdende Eltern widersetzen sich dem ärztlichen Rat, wenn sie glauben, damit die Gesundheit ihres Kindes zu gefährden? In einer Umfrage unter 1.500 Frauen für Kolips Studie gaben nur zwei Prozent an, dass sie selbst sich den Geburtsmodus ausgesucht hätten.
Geburtsmodus beeinflusst das Immunsystem
Lange Zeit hat sich für Kolips Forschung kaum jemand interessiert. Trotz der bekannten Risiken, die die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in einer Pressemitteilung zusammengefasst hat: Thrombosen bei der Mutter, Atemprobleme bei den Neugeborenen, Plazenta-Komplikationen in einer Folgeschwangerschaft, verbunden mit erhöhtem Frühgeburtsrisiko sowie Stillprobleme. Für letzteres fehlen allerdings eindeutige Beweise ebenso wie angebliche Bindungsschwierigkeiten.
„Zu meinen Vorträgen kamen immer dieselben“, erzählt Kolip, „die Frauen aus der örtlichen Frauengesundheitsszene.“ Doch in den letzten Jahren habe sie zunehmend mehr Männer in ihrem Publikum entdeckt. Nicht irgendwelche Männer: Chefärzte von Geburtshilfekliniken.
Ausschlaggebend für das neu erwachte Interesse scheinen neue Untersuchungen zu sein, die zwar noch eingeschränkt aussagekräftig sind, aber einen Zusammenhang nahelegen zwischen dem Geburtsmodus und dem Auftreten von Autoimmunerkrankungen. Nach einer Kohortenstudie der Technischen Universität München aus dem Jahr 2012 ist das Diabetes-Risiko für Kinder nach Kaiserschnitt verdoppelt. Eine Auswertung von 20 internationalen Untersuchungen hatte 2008 ein um 23 Prozent erhöhtes Risiko ergeben – nachdem andere Faktoren wie Diabetes der Mutter herausgerechnet worden waren.
Und nach einer norwegischen Auswertung der Daten von 37.000 Kindern ist das Risiko, mit drei Jahren an Asthma zu erkranken, nach einem Kaiserschnitt erhöht. Zu diesem Schluss war bereits 2008 eine Meta-Analyse von 23 Studien gekommen – wiederum nach Ausschluss anderer Einflüsse. Auch Krebs, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und des Skeletts sowie Allergien werden von einigen Forschern mit dem Geburtsmodus in Verbindung gebracht.
Es gibt Hinweise darauf, dass es nicht einfach die fehlende Auseinandersetzung mit den mütterlichen Keimen während einer vaginalen Geburt ist, die das Immunsystem der Neugeborenen negativ beeinflusst. Eine große, wenn nicht sogar größere Rolle scheint die mangels Wehen-Stress ausbleibende Aktivierung des Immunsystems bei Kaiserschnitten vor Geburtsbeginn zu spielen. Das jedenfalls vermutet der schwedische Professor für Neonatologie, Mikael Norman.
Er veröffentlichte im Juli 2014 mit seinem Team am Stockholmer Karolinska-Institut eine Studie, die zeigt, dass der Geburtsmodus sogar einen Einfluss auf die Entwicklung der Zellen hat. Unter anderem auf die, welche die Immunabwehr und den Stoffwechsel steuern. Ob die Veränderungen dauerhaft seien, müsse aber noch erforscht werden, schreibt er.
Manche betreiben Geburtshilfe statt -medizin
Es gibt Kliniken, die nicht auf derart alarmierende Veröffentlichungen gewartet haben, um mehr Familien eine spontane Geburt zu ermöglichen. Ein Beispiel ist das Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf, kurz UKE genannt. Von 3.151 Frauen wurden im Jahr 2015 nur 27,8 Prozent aller Schwangeren per Kaiserschnitt entbunden. Das ist bemerkenswert, weil die Klinik auf die schwierigsten Fälle spezialisiert ist, darunter extreme Frühgeburten und Mehrlingsschwangerschaften. In anderen vergleichbaren Kliniken wird sehr viel mehr operiert: Im selben Jahr kamen andere große Häuser in Hamburg auf einen Anteil von 40 Prozent und mehr.
Allerdings gibt es im UKE keinen auf Papier fixierten Plan, den andere einfach kopieren könnten. Die niedrige Sectio-Rate ist das Nebenprodukt eines hohen persönlichen Einsatzes und einer besonderen Einstellung der leitenden Ärzte gegenüber dem Beginn des Lebens. „Wir betreiben Geburtshilfe und keine Geburts-Medizin“, erklärt Gerd Ortmeyer, Oberarzt in der UKE-Geburtshilfe. Damit meint er, dass er als Arzt nicht jederzeit alles an Technik einsetze, was möglich ist, sondern versuche, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Das heißt etwa, dass im UKE überdurchschnittlich viele Kinder aus Steißlage – mit dem Po zuerst – vaginal geboren und medikamentöse Weheneinleitungen vermieden werden. „Jede Geburt braucht ihre eigene Zeit“, sagt Ortmeyer, „wenn man sie stört, erschwert man sie.“
Er handelt aus Überzeugung – aber nicht wider besseres Wissen. Dass Interventionen wie Einleitungen, Wehentropf und Narkosen wie die PDA Geburtsverläufe erschweren und eine Operation wahrscheinlicher machen, ist nachgewiesen. Dabei sind gerade die ungeplanten Kaiserschnitte nach Geburtsbeginn – sie machen die Hälfte aller Sectiones aus – die riskanteren und gehen mit einer erhöhten Müttersterblichkeit einher.
Umgekehrt eignet sich eine geplante Sectio Caesarea nicht dazu, die Säuglingssterblichkeit zu senken, die in Deutschland höher ist als in vielen anderen europäischen Ländern und seit einigen Jahren stagniert – bei steigenden Kaiserschnittraten. In Island wurde 2009 gezielt untersucht, ob mehr Schnittentbindungen zu weniger Todesfällen bei Babys führen. Ergebnis: kein Zusammenhang.
Zu wenig Hebammen
Dass die Rate in Deutschland trotz dieser Erkenntnisse so hoch gestiegen ist, hänge daran, dass den Kliniken der finanzielle Anreiz fehle, die geburtshilflichen Abteilungen personell gut auszustatten, glaubt Thomas Dimpfl, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Geburtshilfe. „An spontanen Geburten verdienen Sie einfach nichts“, sagt Dimpfl. „Sie bekommen für eine Geburt, die auch mal 48 Stunden dauern kann, dasselbe wie für eine 20-minütige Augen-OP am Grauen Star: 1.500 Euro.“
Das bedeutet, dass in deutschen Kreißsälen in der Regel nur eine Minimalbesetzung arbeitet. Eine individuelle Geburtsbegleitung durch Hebammen wird damit zum Ausnahmefall. Die ist aber offenbar – wie Vergleichsstudien mit Geburtshäusern und Hausgeburten zeigen – ein entscheidender Faktor, um Geburten sowohl sicher als auch interventionsarm zu machen.
Dimpfl hält zum anderen die stetig zunehmende Klagebereitschaft von Eltern und Krankenversicherungen für verantwortlich dafür, dass so viele Ärzte schnell zum Skalpell greifen. „Es ist noch nie jemand verklagt worden, weil er einen Kaiserschnitt gemacht hat, nur weil er keinen gemacht hat.“
Sein Vorstandskollege Frank Louwen, Leiter der Geburtshilfe am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main, hat sich deshalb für eine evidenzbasierte Leitlinie zum Kaiserschnitt eingesetzt. In dieser würde der aktuelle Forschungsstand zu Geburtssituationen abgebildet. Bisher orientieren sich Ärzte und Ärztinnen in ihren Entscheidungen oft an Gerichtsurteilen, die wiederum auf persönlichen Einschätzungen von Gutachtern in Haftungsprozessen beruhen. Etwa in der Frage, wie Steißlagen, Zwillinge, nach vorangegangener Sectio und einem geschätzten Geburtsgewicht von über 4.000 Gramm entbunden werden sollten.
2017 soll die Leitlinie in Kraft treten. Mediziner wären dann rechtlich auf der sicheren Seite, wenn sie Frauen empfehlen, eine vaginale Geburt zu versuchen – oder eben auch nicht.
Allerdings setzt das voraus, dass es genug motivierte Ärzte und Ärztinnen gibt, die in ihrer Ausbildung mehr lernen, als bei einfachen Geburten die Hebammen machen zu lassen und komplizierte in den OP zu verlegen. „Es gibt eine Antwort auf die steigende Kaiserschnittrate“, sagt Louwen. „Spezialisierung und Kompetenz.“
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