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Aus der ZwischenzeitMein Alltagstrott

■ „Abschied von Mariendorf“ oder eine Möglichkeit, aus der Zeit zu fallen

Zwischen den Jahren bin ich immer kurz vor Anschlag, finanziell, meine ich. Der Dispokredit blinkt im roten Bereich. Nicht bloß der Geschenke wegen. Bewag und Gasag schicken ihre Ableser vorbei, Versicherungen und Vereine erinnern an Mitgliedschaften, die man fast schon vergessen hatte. Wir leben in Zeiten steigender Jahresbeiträge.

Zwischen den Jahren, wo man geneigt ist, glücklich und gelassen zurückzublicken, wird das Geld knapp. Keine Gelegenheit, einfach so aus der Zeit zu fallen und depressiv gestimmt den Menschen beim Schneeschippen zuzusehen. Statt dessen Schlange stehen bei der Sparkasse, um doch noch einen Dreh zu finden, wegen des Dispos. Oder der Besuch von wohlhabenden Freunden, die man aus den Augen verloren hatte.

Es gibt noch einen anderen Ort, die jahreszeitliche Wehmut und die Sorge um das liebe Geld zusammenzubringen. Die Trabrennbahn Mariendorf hält am letzten Renntag des Jahres eine Veranstaltung unter dem sonderbaren Titel „Abschied von Mariendorf“ ab. Wieso Abschied, dachte ich, als ich den Titel erstmals auf dem Programmheft las. Zwei oder drei Tage später findet doch bereits wieder der erste Januarrenntag statt. Nicht die Zocker werden feierlich mit ihren schlechten Bilanzen aus dem alten Jahr entlassen, sondern die Pferde. Zumindest einige. Im Pferdeleben gibt es nämlich keinen persönlichen Geburtstag. Jeweils zum 1. Januar wird ein vollständiger Geburtsjahrgang ein Jahr älter, gleichgültig ob ein stolzes Tier im Februar oder im Juni geboren ist.

Die Züchter müssen sorgfältig darauf achten, daß ein Sportpferd nicht zu spät im Jahr geboren wird, damit es körperlich mit den Jahrgangsgefährten mithalten kann. Vom ersten Tag des Pferdelebens an geht es um viel, viel Geld. Wer kauft schon gern einen etwas mickrig aussehenden Traber. Pech, wenn einer durch eine Frühgeburt bereits im Dezember aus dem Mutterleib gezogen wird. Da kann nur noch der Tierarzt helfen, der den Fohlenschein vordatiert.

Beim „Abschied von Mariendorf“ werden die ausjährigen Pferde von der Rennbahn verabschiedet, jene verdienten Läufer, die aufgrund der Altersruheregelung nicht mehr am Rennbetrieb teilnehmen dürfen. Für Wallache und Hengste ist definitiv mit 14 Jahren Schluß, Stuten laufen nur bis zum Ablauf des 10. Lebensjahrs. Der Fortpflanzung wegen. Gute Rennstuten sollen der natürlichen Reproduktion nicht durch schnöde Rennerei vorenthalten werden. Der Abschied vom Rennbetrieb ist für einen müden Pferdekörper ein Segen, falls sein Weg nicht unmittelbar zum Roßschlächter führt. Was nicht selten der Fall ist. Nicht jedes Pferd, das kein Geld mehr einbringt, darf auf grüne Frühjahrsweiden hoffen. Dabei fällt mir wieder der verheerende Zustand meines Kontos ein.

Auf der einzigen Trabrennbahn der DDR, der Rennbahn in Karlshorst, drehte Anfang der neunziger Jahre ein Fuchswallach namens Luzius seine Runden noch im hohen Alter von 20 Jahren. Die Zeit des leeren Kontos evoziert eine besondere Form der Rührung. Dabei fällt mir Rideknospe ein. In ihrer Zeit Ende der achtziger Jahre war sie beste Stute Berlins. Als sie im Alter von sechs mit mir, ehm, der Rennerei Schluß machte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Was hat sie mir nicht alles gebracht. Nicht nur, aber auch: Geld. Die tote Zeit zwischen den Jahren, wo selbst der schmutzige Schnee das Stadtgetriebe noch abdämpft, lockt mich immer nach Mariendorf. Wenn's gutgeht, erledigt sich auch das Problem mit dem Dispokredit, und alte Freunde können mir gestohlen bleiben. Harry Nutt

Auf der Trabrennbahn Mariendorf wird heute das Finale zum „One-PS-Championscup“ ausgetragen. Beginn 18.30 Uhr

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