Aus Le Monde diplomatique: Eine Frau will nach oben
Wie die Wanderarbeiterin Yu Xinhong nach Shenzhen kam und Immobilienmaklerin wurde.
Vor ein paar Jahren ging Yu Xinhong zum ersten Mal von zu Hause weg. So weit war sie nie zuvor gereist, sie war auch noch nie zuvor mit dem Zug gefahren. Der Zug war voller Bauern, Männer und Frauen in Mao-Anzügen, die ihren Träumen gen Süden folgten. Ihre Haut war gerötet und sonnengegerbt, ihre Schuhe waren staubig und ausgetreten. Kettenrauchend saßen sie in den überfüllten Abteilen und erzählten sich Geschichten von Nachbarn, die mit Geld und Geschenken nach Hause zurückgekehrt waren. Yu Xinhong, die damals gerade 18 war, lauschte ihnen.
In den Korridoren kauerten Reisende, die so alt waren wie Yu Xinhong oder ein bisschen älter. Alle trugen ihre besten Kleider. Sie unterhielten sich mit ihren Freunden und störten mit ihrem Gelächter den Schlaf der Bauern, denen auf ihren Sitzplätzen immer wieder die Augen zufielen. Fast einen ganzen Tag lang machte Yu Xinhong kein Auge zu. Sie saß am Fenster, schaute sich die Dörfer und Bauernhöfe an, die draußen vorbeizogen, die Menschen, die ein- und ausstiegen. Zum ersten Mal begegnete sie Chinesen aus anderen Teilen ihres gewaltigen Landes. „Ich dachte, nur bei uns gäbe es Dörfer und nur wir wären arm. Als ich mit dem Zug nach Shenzhen fuhr, merkte ich, dass das gar nicht stimmte“, erzählte sie mir vier Jahre später, im Sommer 2007.
Als sie an dem gerade neu erbauten Bahnhof Luohu in Shenzhen ankam, stand sie inmitten von riesigen Glasgebäuden, Fünfsternehotels, Einkaufszentren, Bars, Restaurants, Massagesalons, Friseurgeschäften und McDonald’s-Filialen. (Wo sie herkam, hatte kein Haus mehr als vier Stockwerke, und es gab nur Backsteinhäuser.) Überall waren Menschen, junge Männer und Frauen aus ganz China. Sie sprachen Dialekte, die sie nicht verstand. Manche Mädchen waren über einen Meter achtzig groß, manche hatten helle Haut, manche trugen enge Jeans oder einen Minirock. Yu Xinhong war klein, und ihren Teint fand sie eher dunkel. Sie bewunderte und beneidete all die „Schönheiten“, die aus einem China kamen, von dem sie und ihre Freundinnen aus dem Dorf nichts wussten. Sie war unglaublich aufgeregt.
ist Professor für Politische Ökonomie am Ramapo College in New Jersey. Autor unter anderem von „Embracing the Infidel: Stories of Muslim Migrants on the Journey West“, New York (Random House) 2006. Demnächst erscheint sein Buch „The Greatest Migration: A People’s Story of China’s March to Power“, dem dieser Text entnommen ist.
Zu zehnt bis zwölf in einem Zimmer
Als Yu Xinhong noch ein kleines Mädchen war, hatte gerade die erste Generation von Wanderarbeitern ihr Dorf verlassen. Das waren Männer Ende zwanzig oder dreißig, die von den neuen Privatunternehmen in Shenzhen und anderswo angeworben worden waren. Nach ein paar Jahren kehrten sie mit dem Geld zurück, das sie in Fabriken oder auf Baustellen verdient hatten, bauten der Familie ein besseres Haus und kümmerten sich wieder um ihrem Bauernhof oder gründeten kleine Unternehmen. Ihr eines Standbein war der Bauernhof, das andere die Stadt; dort waren sie nur zeitweise und arbeiteten unglaublich hart. Zu zehnt bis zwölft bewohnten sie ein Zimmer in einem Wohnheim. Viele hausten in Migrantenghettos und teilten sich winzige Unterkünfte ohne Küche oder Bad. Das Einkommen war gering, aber trotzdem weit höher als auf dem Bauernhof.
Zu der Zeit, als Yu Xinhong den Shenzhen-Express bestieg, war die Arbeitsmigration zu einer Einbahnstraße geworden. Die neuen Wanderarbeiter waren in den Jahren der Reform geboren, viele hatten die Mittelschule, manche sogar die Oberschule besucht. Die großen Städte hatten ihnen globale Kultur und Konsum nahegebracht. In ihrer Freizeit gingen sie zum Schaufensterbummel in Einkaufszentren, ins Kino, zu McDonald’s oder Kentucky Fried Chicken. Sie besuchten Karaokebars mit Freunden, hatten wechselnde Beziehungen, lernten Ausländer kennen und fühlten sich als Teil des neuen China. Die meisten von ihnen standen weiterhin am Rand der Gesellschaft, aber sie träumten davon, sich eines Tages all das zu erarbeiten, was China an den Rest der Welt lieferte. Viele kannten sich in der Landwirtschaft überhaupt nicht aus und verabscheuten das Leben auf dem Bauernhof, einen Bestandteil des alten Chinas ihrer Eltern. Die Großstadt stand für Hoffnung; der Bauernhof nicht. Sie hatten nicht die Absicht, wieder zurückzukehren.
Dieser Artikel ist aus der Juliausgabe von Le Monde diplomatique. Jeden zweiten Freitag im Monat liegt sie der taz bei.
Yu Xinhongs Bruder ging nach Shenzhen, als sie ein Teenager war. Auch für sie war die Zeit bald gekommen, aber zuerst musste sie die Oberschule zu Ende machen, das hatte sie ihrem Vater versprochen. Zu ihrem Wort musste sie stehen. Mit guten Noten bestand sie die Abschlussprüfungen. Nur Tage später packte sie den Koffer und stieg in den Zug nach Shenzhen: „Vater wollte, dass ich losziehe und die Welt kennenlerne.“
Heimlich mit dem Traktor zur Schule
Sie erzählte mir, wie ihre Familie gelebt hatte. Der Bauernhof ihrer Eltern lag in einem kleinen, trostlosen Dorf in Westchina, am Fuß der Berge und am östlichen Ufer eines Flusses, in dem es viele köstliche Fische gab. Das Schönste in der Gegend war für sie immer das Frühlingsfest. Die Bewohner ihres Weilers und anderer Dörfer zündeten spätabends Laternen vor ihren Häusern an. „Von der anderen Seite aus sah man lange Linien aus Licht. Der ganze Berg leuchtete.“
Aus dem Wohnzimmerfenster sah Yu Xinhong die kurvige Straße, die sich wenige hundert Meter unter ihr erstreckte. Es gab keine Autos damals, nur Traktoren und Lastwagen. Sie rannte auf die Straße und wartete mit den älteren Jungs aus dem Dorf, bis der Traktor näher kam. Dann kletterten sie rasch hinauf, um ein Stück mitzufahren, immer in der Hoffnung, dass der Fahrer es nicht merkte. Als sie elf wurde und in die fünfte Klasse kam, war es kein Spiel mehr, auf Traktoren zu springen, sondern eine Notwendigkeit. Die Schule lag eine Stunde zu Fuß entfernt. Die Familie besaß kein Fahrrad. Wenn man auf einen Traktor aufsprang, schaffte man die Strecke in nur zwanzig Minuten. Yu Xinhongs Vater war besorgt, nachdem sie sich einmal bei einem Sturz vom Traktor verletzt hatte, deshalb versprach sie ihm, damit aufzuhören. Eine Weile hielt sie ihr Versprechen, doch dann verlegte sie sich wieder auf die Traktoren, bis der Ältere ihrer beiden Brüder einen gebrauchten Lastwagen kaufte. „Dann saß ich immer neben ihm, und wir überholten alle Traktoren. Wir waren jetzt viel schneller.“
Yu Xinhongs Mutter war Bäuerin, ihr Vater Lehrer. Als Yu Xinhong 1985 geboren wurde, war er der Hauptverdiener, mit 12 Dollar Einkommen im Monat. Das war schon deutlich mehr als sein Verdienst zum Zeitpunkt der Hochzeit; das Paar war bettelarm gewesen. Mit dieser Lohnsteigerung konnte sich die Familie mehr und bessere Nahrungsmittel leisten, dennoch war das Leben während des Großteils von Yu Xinhongs Kindheit hart. Ihr Vater aß gern Tofu, den er mit reichlich Sojasoße übergoss. Sie erinnerte sich, wie er manchmal weinte, wenn er das aß. Seine Tränen stellten sie vor ein Rätsel. „Das Essen ist köstlich. Warum weinst du?“, fragte sie ihn immer. „Es würde sogar noch besser schmecken, wenn du ein bisschen Zucker dazugibst.“ Jahre später und aus der Ferne begriff sie, dass der Tofu ihn an alte Zeiten erinnert hatte. Tofu war billig, selbst die Ärmsten der Armen konnten ihn sich leisten, und er hatte sich lange nichts anderes kaufen können.
Glückszahl 282,8
Die Familie besaß vier kleine Grundstücke in verschiedenen Teilen des Dorfs. Das erste war ein Reisfeld. Es lag nicht weit entfernt an einem Berghang. Ihre Mutter hatte keine Maschinen und bestellte das Land mit der Hand. „Sie musste jeden Tag zum Reisfeld gehen, um den Wasserstand zu prüfen und Unkraut zu jäten.“ Die Familie hielt drei Schweine in einem Stall am Haus, den Dung brachte die Mutter auf dem Feld aus. Ganz allein pflanzte die Mutter noch Mais, Weizen, Bohnen und Kartoffeln auf den anderen Grundstücken an. Manchmal standen Yu Xinhongs Brüder gemeinsam mit der Mutter auf und arbeiteten vor der Schule noch auf dem Feld. Yu Xinhong blieb im Bett: „Ich war zu klein.“ Doch auch als sie älter wurde, änderte sich daran nichts: „Ich habe nie auf dem Hof gearbeitet oder meiner Mutter zu Hause geholfen. Mein Vater wollte das so. Ich sollte immer nur lernen.“
Als Yu Xinhong 16 war, verdiente ihr Vater 130 Dollar im Monat, und die Brüder schickten aus Shenzhen Geld nach Hause. Die Familie schaffte sich einen Farbfernseher und einen Kühlschrank an. „Als ich noch ganz klein war, hatten wir keinen Fernseher, wie die meisten Dorfbewohner. Nur eine Familie in unserem Dorf besaß einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. […] Unter den Dorfbewohner gab es einen beliebten Witz: ’Habt ihr Elektrogeräte bei euch zu Hause?‘ – ’Ja, wir haben eine Taschenlampe.‘ “ Kurz nachdem Yu Xinhong nach Shenzhen abgereist war, zog die Familie in ein Backsteinhaus.
Nach ihrer Ankunft in Shenzhen arbeitete Yu Xinhong fast ein Jahr an einem Fließband, an dem Monitore und kleine Computer hergestellt wurden, die für den Export bestimmt waren. Ihr erstes Gehalt betrug 282,8 Yuan pro Monat (33 Dollar): „Ich glaube, 282,8 war eine Glückszahl, wegen der Doppelzwei und der Doppelacht.“ Sie machte keine Überstunden und musste sich mit elf weiteren Mädchen einen Schlafsaal teilen. Das Essen war sehr schlecht: „Mir fehlte die Küche meiner Mutter.“ Nach nur einem Monat bekam sie schon 50 Dollar Gehalt – eine deutliche Steigerung.
Ihr Chef war ein junger Taiwanese, besessen von Disziplin, Gehorsam und Effizienz. Die Vorgesetzten verwandten viel Zeit darauf, die Arbeiter auszubilden. Die Fabrik war sehr komplex organisiert. In jeder Abteilung herrschten strenge Abläufe. Yu Xinhong begann ihren Tag, indem sie sich mit hunderten von Mädchen in ordentlichen Reihen aufstellte, salutierte, Parolen rief und sich und andere anspornte. In ganz Shenzhen und anderen Fabrikstädten taten Millionen junger Arbeiter das Gleiche, sie kopierten den militärischen Drill, den taiwanesische Chefs in den 1980er Jahren nach China mitgebracht hatten. Der Drill, die Disziplin, der niedrige Lohn machten ihr nichts aus. Es war spannend, eine neue Welt kennenzulernen.
Der Arbeit war hart und anstrengend. Nach drei Monaten beförderte der Chef sie zur Gruppenleiterin. Das war ein bedeutender Aufstieg in einer kurzen Zeit, und Yu Xinhong war stolz auf sich. Sie war verantwortlich für eine kleine Gruppe von Frauen, von denen manche sogar ein paar Jahre älter waren als sie. Kurz darauf bat sie um eine weitere Beförderung und Versetzung an eine andere Stelle in der Fabrik, aber der Chef lehnte ab. Sie kündigte, nicht wegen der Schwierigkeiten, sondern weil sie „bessere und anspruchsvollere Posten“ wollte.
"In Shenzhen sind die Menschen kalt"
Im Lauf der nächsten zwei Jahre arbeitete Yu Xinhong in vier Fabriken und wohnte in anderen, manchmal weniger überfüllten Wohnheimen. Sie suchte nach einer besseren und anspruchsvolleren Stelle, die ihrer Ausbildung und ihren Träumen gerecht wurde. „Ich hatte einen Oberschulabschluss. Die meisten Mädchen, mit denen ich zusammenarbeitete, waren nur auf der Mittelschule.“ Bei einer ihrer Anstellungen lernte sie ihren „ersten richtigen Freund“ kennen, einen kleinen, dünnen Wachmann, der zwölf Jahre älter war als sie: „Ich brauchte jemanden, der mich beschützte.“ Er benahm sich stets freundlich und respektvoll, und Yu Xinhong war zufrieden, doch ihr Bruder war empört – „Er ist zu alt für dich“ – und verlangte die Trennung. Um sicherzugehen, befahl ihr der Bruder, nach Hause zurückzukehren. Sie gab nach, verabschiedete sich von ihrem Freund und kehrte an den Ort zurück, von dem sie geglaubt hatte, ihn für immer hinter sich gelassen zu haben. „Ich kann meinem Bruder und Vater nichts verweigern. Sie sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben.“
Zu Hause nahm sie eine Stelle in einem Kopierzentrum in einem nahe gelegenen Ort an. Die Wärme und die Freundlichkeit im Dorf gefielen ihr, aber das Leben dort war nicht vergleichbar mit dem Trubel und der Energie von Shenzhen. „Wir wohnen in den Bergen und sind ein wenig abgeschottet vom Rest der Welt. Aber die Menschen sind nett und freundlich. In Shenzhen sind die Menschen kalt. Man kennt nicht einmal seine Nachbarn. Viele sind einsam. Aber ich wollte in Shenzhen leben und es zu meiner neuen Heimat machen.“ Die Arbeit im Kopierzentrum langweilte sie und war zudem schlecht bezahlt. Sie begegnete keinen neuen, interessanten Menschen, lernte nichts dazu. Sie fühlte sich gefangen.
Die Familie sorgte sich wegen Yu Xinhongs Ruhelosigkeit und wollte ihr helfen. Eines Tages eröffnete sie ihr: „Du bist alt genug, um zu heiraten.“ Kurz darauf fand die Familie einen geeigneten Kandidaten. Er war dreiundzwanzig, der reichste junge Mann aus einem nahe gelegenen Ort. Seine Eltern waren Millionäre, denen eine lukrative Teefabrik gehörte. „Es bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen unseren Familien. Er war eine gute Wahl, in jeder Beziehung, und dazu jung, pflichtbewusst und aus einer anständigen Familie.“ Er kümmerte sich sehr erfolgreich um das Familienunternehmen. „Ein Traummann. Alle alleinstehenden Mädchen in der Stadt waren hinter ihm her. Er hatte schon viele Affären gehabt. Wahrscheinlich hatte er seinen Glauben an die Liebe verloren. Er wollte nur eine Ehefrau.“ Doch Yu Xinhong wollte die wahre Liebe und ein eigenes Leben.
Befreiende Trennung
Nachdem sie drei Monate zusammengewesen und die ersten Vorbereitungen für die Hochzeit getroffen waren, machte sie Schluss. „Hätte ich meinen Verlobten geheiratet, wäre ich den Rest meines Lebens in der Kleinstadt geblieben. Das wollte ich nicht. Ich wollte mehr vom Leben.“ Es war die größte Entscheidung ihres Lebens, den Traum von Millionen anderer Mädchen abzulehnen. Bei ihrem letzten Treffen erklärte sie ihm: „Irgendwann werde ich eine Chefin sein. Vielleicht keine große Chefin, aber immerhin. Ich werde ein eigenes Unternehmen haben, und wenn es nur ein kleines ist.“
Die Trennung war befreiend, aber es bedeutete, dass sie ganz von vorne beginnen musste. „Ich musste weg. Ich musste mir irgendwo Arbeit suchen, aber ich wusste nicht, wo.“ Sie hatte eine goldene Gelegenheit verstreichen lassen, und nun musste sie ihrer Familie beweisen, dass ihre Entscheidung richtig war. „Mein Vater stellte sich nicht gegen mich. Er respektierte meine Entscheidung. Aber er war enttäuscht, das wusste ich. Er machte sich Sorgen.“ In dieser Zeit des Durcheinanders kam die Rettung in Gestalt eines alten Freundes. „Auf der Highschool war ich sozusagen mit ihm zusammen. Ich hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen.“ Er erzählte ihr, dass er drei Jahre zuvor von zu Hause in die östliche Provinz Zhejiang gezogen war; innerhalb von zwei Jahren war er zu einem eigenen kleinen Unternehmen gekommen und führte ein bequemes Leben: „Er bot mir an, bei ihm zu arbeiten. Ich mochte ihn und vertraute ihm. Ich war sehr froh.“ Yu Xinhong packte wieder ihre Koffer und stieg in einen Zug. „Ich hatte Angst und war aufgeregt. Außer ihm kannte ich niemanden dort.“
Als der Zug in den Bahnhof einrollte, stand er da und erwartete sie. Sie freute sich, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Er zeigte ihr alles, lud sie zu „einem sehr guten Essen ein“ und brachte sie in seine Wohnung, wo sie zunächst übernachten konnte. In ein paar Tagen sollte sie mit der Arbeit anfangen und sich eine eigene Wohnung suchen. Aber irgendetwas kam ihr an dem geräumigen, luxuriösen Apartment komisch vor. Es gab viele „schöne Mädchen“, sie waren modisch gekleidet und herausgeputzt und gingen aus und ein. „Alle behaupteten, seine Freundin zu sein.“ Yu Xinhong war verblüfft. „Mein Freund war sehr zwanglos. Die Mädchen waren nett. Sie gingen ins Bad und kamen stark geschminkt wieder heraus.“ Als es klingelte, betrat ein Mann die Wohnung. „Er unterhielt sich mit den Mädchen über Preise.“ Yu Xinhong hörte, wie die Mädchen darüber sprachen, dass sie zu spät zur Arbeit kämen. „Wo könnten sie bloß arbeiten?“, fragte sie sich. Sie bemühte sich, über ihren Verdacht hinwegzusehen, aber die Hinweise waren einfach zu deutlich.
Heimat als Gefängnis
Yu Xinhong hatte schon viele Geschichten von Mädchen vom Lande gehört, die in der Stadt zur Prostitution angestiftet worden waren. In Shenzhen hatte sie einige kennengelernt. „Das Leben im Dorf ist sehr hart. Viele Mädchen laufen auf der Suche nach einem besseren Leben von zu Hause weg. Manche haben Glück, andere nicht. Manche werden zunächst getäuscht. Doch sie verdienen gut. Sie gewöhnen sich daran und bleiben.“ Hatte ihr alter Freund sie hergebeten, damit sie als Prostituierte arbeitete? Sie wollte am liebsten heulen, weglaufen, einfach verschwinden; aber sie war nicht dumm und schätzte die Situation richtig ein. „In diese Falle wollte ich nicht tappen. Ich hätte leichtes Geld verdienen können, wenn ich gewollt hätte.“ Als die anderen Mädchen alle weg waren, nahm sie ihren Mut zusammen und sprach ihren Freund an. „Du bist jung. Dein Leben liegt noch vor dir. Such dir einen anderen Beruf. Nach und nach wirst du immer besser leben können. Das hier musst du nicht tun.“
In dieser Nacht saß sie in einer Ecke und weinte, bis sie einschlief. Am nächsten Morgen borgte sie sich Geld von ihrem Freund und nahm den Zug zurück zu ihrer Familie. „Wo hätte ich sonst hingehen sollen? Ich habe mich sehr geschämt.“ Doch ihr Zuhause empfand sie als erstickend und unerträglich, sie war ruhelos und launisch und machte ihrer Familie das Leben schwer. Ihre Tage „wollten nicht enden“. Der Ort, den sie so sehr geliebt hatte, war zu einem Gefängnis geworden. Shenzhen sei ihre neue Heimat, verkündete sie ihrer Familie, und wenige Wochen später saß sie wieder in einem Zug dorthin. Sie fand eine Stelle als Bedienung in einem Teehaus und bekam 90 Dollar im Monat für zwölf Stunden Arbeit täglich.
Die Mietpreise hatten sich seit ihrer ersten Reise nach Shenzhen mehr als verdoppelt: Überall waren neue Bürogebäude und Luxuswohnhäuser entstanden. Shenzhen hatte das zweithöchste Pro-Kopf-Einkommen in ganz China, kurz hinter Schanghai. Die Wirtschaft boomte – Exportunternehmen, Banken, Versicherungen, Hotels und lukrative Dienstleistungsunternehmen. Die vielen florierenden Betriebe machten Shenzhen zu einer Modellstadt. Immobiliengeschäfte führten zu einem wahren Goldrausch. Die Makler kauften und verkauften pausenlos, alte wie neue Gebäude. Viele von Yu Xinhongs Freunden waren Makler. Sie verdienten dreimal so viel wie Yu Xinhong in dem Teehaus. Sie machte sich Gedanken: „Ich möchte Immobilienmaklerin werden. Ich kann gut mit Menschen umgehen. Ich werde Erfolg haben.“ Für junge Wanderarbeiter mit einem Highschoolabschluss war der Immobiliensektor das Tor zur Welt des Geldes. Sie konnten sich hübsche Kleider kaufen und auf eine Wohnung und ein Auto sparen. Yu Xinhong träumte von einer Eigentumswohnung in Shenzhen. „Mein Leben im Teehaus ist zu simpel; es ist besser, als in einer Fabrik zu arbeiten, aber mir ist es nicht aktiv genug, und es passt nicht zu meinen Träumen“, erzählte sie mir wenige Tage, bevor sie kündigte, um in die Immobilienbranche einzusteigen.
Und schließlich eine eigene Wohnung in Longgang
Als Maklerin arbeitete sie sieben Tage die Woche von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends. Die Firma brachte sie in einem „Wohnheim“ unter, einer Vierzimmerwohnung ohne Küche, die sie mit 15 weiteren Angestellten, darunter auch ihrer Vorgesetzten, teilen musste. Der Betrieb spezialisierte sich auf Wohnungen in einem aufstrebenden Teil der Stadt, die Kundschaft bestand aus wohlhabenden Chinesen und Ausländern sowie aus gebildeten und besser verdienenden jungen Arbeitsmigranten. Sie lernte ziemlich schillernde Persönlichkeiten kennen.
Ich stand regelmäßig in Kontakt mit Yu Xinhong. Wir planten mehrfach Treffen, die aber immer wieder verschoben wurden, weil sie arbeiten musste. Mit Hilfe einer Freundin, einer Collegeabsolventin, die Englisch konnte, schickte sie mir per SMS gute Wünsche und sogar chinesische Gedichte. „Ich würde mich gern mit Ihnen treffen, wenn ich in meinem neuen Beruf etwas geleistet und eine Wohnung vermietet habe“, schrieb sie, nachdem sie ein Treffen abgesagt hatte. Nach drei Wochen schloss sie erfolgreich einen Vertrag ab und vermietete die erste Wohnung. Ich erfuhr die gute Nachricht als Erster: „Ich verdiene noch nicht viel, aber das wird sich ändern. Ich lerne dazu. Sobald ich die nötige Erfahrung gesammelt habe, wechsle ich zu einer größeren Firma. Das hier ist nur der erste Schritt.“ Es war unser letzter Kontakt, bevor ich Shenzhen verließ.
Sich eine günstige SIM-Karte und ein Handy zu besorgen, ist das Erste, was junge Wanderarbeiter bei ihrer Ankunft in Shenzhen tun: Es ist die wichtigste Verbindung zu ihren Familien zu Hause und zu ihren neuen Freunden. Doch zuverlässig ist sie nicht. Die jungen Leute verlieren das Handy, wechseln die Telefonnummer und die Adresse, ziehen gar in andere Städte und hinterlassen keine Spuren.
Als ich im Sommer 2009 nach China zurückkehrte, versuchte ich, wieder zu all den Wanderarbeitern Kontakt aufzunehmen, die ich bei früheren Besuchen kennengelernt hatte. Viele hatten eine neue Nummer, waren umgezogen oder nach Hause zurückgekehrt. Yu Xinhong bildete eine Ausnahme: „Ich habe dieselbe Nummer behalten. Ich hatte gehofft, Sie würden zurückkehren und Kontakt mit mir aufnehmen“, erzählte sie mir, als wir uns an einem schwülen Nachmittag im August 2009 trafen. „Mein Leben hat sich sehr geändert. Ich habe Ihnen wahnsinnig viel zu erzählen.“ Wir hatten ein Restaurant als Treffpunkt gewählt. „Diesmal lade ich Sie ein. Ich verdiene jetzt gut“, sagte sie. Sie war erfolgreich und arbeitete für eines der größten Bauunternehmen in Shenzhen. Mit einem Rekordverkauf von 100 Apartments in zehn Monaten war sie „die Nummer eins der Makler“ in ihrem Unternehmen. Yu Xinhong hatte jetzt 6 000 Dollar gespart.
Als Einstieg: Maklerin auf "Stufe drei"
Sie verwirklichte ihre Träume schnell. Für die Anzahlung einer 30-Quadratmeter-Wohnung in einem Bauprojekt ihrer Firma hatte sie genug Geld. „Ich würde gern etwas Größeres kaufen. Aber das ist ein guter Anfang. In zwei Jahren kaufe ich mir eine größere Wohnung und vermiete diese hier.“ Dann hielt sie mir einen Vortrag über die Immobilienbranche in Shenzhen, die Preise in den unterschiedlichen Stadtvierteln, den Kampf der Bauunternehmen um potenzielle Kunden. „Meine Arbeit ist gar nicht so schwierig. Es wird viel Geld für Werbung ausgegeben. Die Kunden kommen von selbst auf uns zu.“
Bei ihrem Einstieg war Yu Xinhong noch Maklerin auf „Stufe drei“. Sie half Vermietern bei der Suche nach Mietern und Mietern bei der Suche nach Wohnungen. Aber sie wollte höher hinaus. Sie wollte Apartments in neuen, teuren Anlagen verkaufen: „Da kann man sich hervortun“, sagte sie. Nur zwei Monate nachdem sie im Teehaus gekündigt hatte, arbeitete sie schon auf „Stufe zwei“ und verkaufte Wohnungen in Neubauten. Die Konkurrenz war groß, es war schwer, Geld zu verdienen, und sie verkaufte nur wenige Apartments. „Ich konnte nichts sparen. Shenzhen ist sehr teuer. Ich gab alles aus, was ich verdiente.“
Durch ihre neue Stelle lernte sie einflussreiche Menschen mit Geld und Beziehungen kennen. Ein Jahr später stellte ihr ein Freund einen Bauunternehmer vor, der Apartmenthäuser in Longgang baute, einem Industriebezirk von Shenzhen. Im Oktober 2008, zu Beginn der großen globalen Wirtschaftskrise, zog sie selbst nach Longgang. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung wuchs der Immobilienmarkt in Shenzhen weiter. Die Preise stiegen. Während in China 20 Millionen Wanderarbeiter arbeitslos wurden, verdiente Yu Xinhong in einem sicheren Job weiterhin gutes Geld. „Die Immobilienbranche hier ist eine Goldgrube. Ich bin sehr froh, dass ich umgestiegen bin. Plötzlich ging alles wie von selbst.“
Yu Xinhongs alte Kunden brachten Kollegen und Freunde mit Geld dazu, in den Immobilienmarkt zu investieren. „Meine Kunden waren sehr dankbar. Die Wohnungen, die ich verkaufte, erzielten manchmal den doppelten Preis beim Verkauf.“ Bald verdiente Yu Xinhong 800 Dollar im Monat, ein gutes Einkommen für chinesische Verhältnisse, besonders für ein Dorfmädchen, das lediglich einen Oberschulabschluss hatte: „Ich gebe 250 Dollar im Monat aus, den Rest spare ich. Sogar meiner Familie schicke ich Geld.“
Jetzt suchte sie einen Mann zum Heiraten. „Ich führe jetzt ein gutes Leben, aber das Wichtigste ist für mich trotzdem, den richtigen Mann zu finden. Ganz egal, wie viel Geld man verdient, das steht an erster Stelle.“ Es würde nicht leicht werden, denn ihre Eltern mussten einverstanden sein, trotz ihres persönlichen Erfolgs und ihrer finanziellen Unabhängigkeit. „Meiner Familie verdanke ich alles. Ohne meinen Vater und all das, was er mir beigebracht hat, wäre ich nicht hier.“ Bei jeder wichtigen Entscheidung berücksichtigte sie seine Wünsche, besonders, wenn es um einen Lebenspartner ging.
Kein Interesse an Männern ohne Ehrgeiz
Der richtige Mann sollte um die 35 sein und möglichst ein Haus und ein Auto besitzen. Das Aussehen war nicht unwichtig, wichtiger jedoch waren andere Qualitäten: „Wenn du jemanden magst, dann ist er in deinen Augen der schönste Mensch auf der ganzen Welt. Ich glaube, es ist alles Schicksal. Der Richtige ist womöglich völlig anders, als du denkst.“ Er musste zwar nur einen Oberschulabschluss haben, sollte aber dennoch in vielen Dingen bewandert sein „und eine gute Einstellung zur Arbeit und zum Leben haben“. Männer ohne Ehrgeiz und ohne Interesse am Geldverdienen interessierten sie nicht. Zusätzlich gab es noch Wichtigeres zu bedenken. Das Paar musste im selben Tierkreiszeichen geboren sein (abhängig vom Jahr der Geburt in dem Zwölf-Jahres-Zyklus der chinesischen Tierkreiszeichen). Yu Xinhong war im Jahr der Schlange geboren und würde nur eine Schlange heiraten.
Außerdem musste er aus ihrem Dorf oder aus der Nähe stammen. Das verlangten ihre Eltern. „Meine Eltern werden sich nach der Herkunft der Familie meines Mannes erkundigen, wenn er aus derselben Gegend kommt. Das ist ihnen sehr wichtig. Sie können dann eine enge Beziehung zu den Verwandten meines Mannes aufbauen. Wir werden eine große Familie sein.“ Bisher war noch niemand all diesen Erfordernissen gerecht geworden, aber es gab einen Verehrer, der „in Betracht gezogen wurde“. Er war Geschäftsführer eines Eilzustelldienstes und sechs Jahre älter als Yu Xinhong. In Shenzhen hatte er zu ihren Kunden gezählt: „Ich habe ihm sehr viele Wohnungen gezeigt, aber nichts hat ihm gefallen. Da bekam er Gewissensbisse und lud mich zum Mittagessen ein.“ Er war sicherlich ein guter Mann, aber er verdiente nur 550 Dollar monatlich, weniger als sie, und er war natürlich nicht im Jahr der Schlange geboren. Doch sie hielt die Verbindung aufrecht. Sie telefonierten und schickten sich SMS. „Ich habe viel zu tun. Ich arbeite viel und kann mich nicht mit ihm treffen.“
Es kamen allerdings auch andere potenzielle Verehrer infrage. Immerhin hatte sie den reichen Mann, den ihre Eltern ausgewählt hatten, abgelehnt. Als wir uns das letzte Mal trafen, erzählte sie mir: „Es war die richtige Entscheidung. Sehen Sie mich jetzt an. Alles, was ich habe, gehört mir – und dies durch meine eigene Leistung. Mein zukünftiger Ehemann wird mich und das, was ich mir erarbeitet habe, respektieren müssen.“
Aus dem Englischen von Elke Link
© "Le Monde diplomatique, London
Le Monde diplomatique vom 8.7.2011
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