Aus "Le Monde diplomatique": Wendepunkt 9/11
Vor zehn Jahren wurde Lower Manhattan zum Sarajevo des Krieges gegen den Terrorismus. Das letzte Kapitel über den Verfall und Untergang des Imperium Americanum.
In zwei Jahren werden die Redaktionen von Vanity Fair und The New Yorker in das verfluchteste Gebäude der Welt einziehen. Die Creme der amerikanischen Hochglanzfotografen, Klatschkolumnisten und Magazinjournalisten könnte dort einige makabre neue Musen antreffen.
Hoch oben im Gebäude World Trade Center 1 (wo Condé Nast sich üppige Räumlichkeiten gesichert hat) werden sie aus ihren Fenstern auf die gespenstische Leerstelle starren, nur wenige Meter entfernt, wo am 11. September 2001 um 8 Uhr 46 in den Räumen der Investmentbank Cantor Fitzgerald 658 Angestellte an ihren Schreibtischen gesessen haben.
Aber keine Sorge: Der "Freedom Tower" wird – wie uns die Promoter versichern – den Familien der Märtyrer von 9/11 anhaltenden Trost spenden, zugleich eine Ikone der Wiedergeburt von New York City und der Nation werden und für eine dramatische Wiederauferstehung der Immobilienpreise im Viertel sorgen. Wobei ich gestehen muss, dass ich dieses innige Miteinander von Bauspekulation und hehrem Gedenken nervtötend finde: so als würde in dem überfluteten Armenviertel von New Orleans ein "Katrina"-Themenpark entstehen.
Dieser Artikel ist aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. Die nächste erscheint am 11. November als Beilage der taz, mit Beiträgen u.a. von Eva Illouz, Volker Perthes, Hilal Sezgin und Charlotte Wiedemann.
Nach dem ursprünglichen Entwurf sollte das One World Trade Center die Vorherrschaft Manhattans in der vertikalen Architektur wiederherstellen und das höchste Gebäude der Welt sein. Doch diesen globalen Phallus-Wettbewerb hat mittlerweile der Monsterwolkenkratzer Burj Khalifa in Dubai gewonnen, der 2010 vollendet wurde und doppelt so hoch ist wie das Empire State Building. Allerdings wird Dubai den Pokal schon in ein paar Jahren an Saudi-Arabien und die Familie bin Laden abtreten müssen.
"Arabischer Warren Buffett"
Prinz al-Walid bin Talal, der sich gern als "arabischer Warren Buffett" bezeichnen lässt, will den geplanten Kingdom Tower von Dschidda finanzieren, der als ultimative Apotheose des saudischen Despotismus an der Küste des Roten Meers bis in die unvorstellbare Höhe von einem vollen Kilometer (3.281 Fuß) in den Himmel ragen wird. Dagegen wird sich das One World Trade Center nicht mehr als 1.776 Fuß über den Hudson River erheben. (Verschwörungstheoretiker können sich an der zufälligen Zahlenkonstellation berauschen, dass die Höhe in Fuß, die der saudische Wolkenkratzer den New Yorker überragt, fast genau der Zahl der Menschen entspricht, die 2001 im nördlichen der Twin Towers zu Tode kamen.)
Fast unbeachtet von der Weltöffentlichkeit hat Prinz Walid den ersten Milliardenauftrag für den Turm von Dschidda an den größten Baugiganten und Hochhausexperten der arabischen Welt vergeben – die Bin-Laden-Gruppe. Damit dürfte der Name der Familie über Jahrhunderte gegenwärtig bleiben.
Vor zehn Jahren wurde Lower Manhattan zum Sarajevo des Krieges gegen den Terrorismus. Zwar sträubt sich das Gewissen gegen den Versuch, die Ermordung eines einzigen Erzherzogs und seiner Gattin am 28. Juni 1914 mit dem Massaker an fast 3 000 Menschen in New York moralisch zu vergleichen, aber auf einer anderen Ebene ist diese Analogie auf fast schon gruselige Weise zwingend.
In beiden Fällen fühlte sich eine kleine Randgruppe gut vernetzter Verschwörer zum Angriff auf ein bedeutendes Symbol des Imperiums legitimiert, das sie für die bitteren Leiden in ihrer Heimatregion verantwortlich machten. Ihr Gewaltakt war bewusst darauf angelegt, einen nachgerade kataklystischen Zusammenstoß auszulösen, was den Verschwörern auf eine Weise gelungen ist, die selbst ihre finstersten Erwartungen übertroffen hat.
Hohenzollern und Texaner
lehrt derzeit Kreatives Schreiben an der University of California, Riverside. Er ist Autor unter anderem von: "Planet der Slums", Berlin (Assoziation A) 2007.
Die Reichweite der geopolitischen Explosionen, die in beiden Fällen ausgelöst wurden, war nicht einfach die logische Folge ihrer Tat und deren trauriger Berühmtheit. Schließlich wurden in Europa zwischen 1890 und 1940 mehr als zwei Dutzend Staatsoberhäupter ermordet, darunter die Könige von Italien, Griechenland, Jugoslawien und Bulgarien, eine österreichische Kaiserin, drei spanische Ministerpräsidenten und zwei Präsidenten Frankreichs, aber von allen Attentaten wurde allein die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie in Sarajevo zum Auslöser eines Krieges.
Ähnliches gilt für 9/11. Im Jahr 1983 tötete ein einziger Selbstmordattentäter, der einen Lastwagen in eine US-Kaserne beim Flughafen von Beirut steuerte, 241 Marinesoldaten. (Am selben Tag kamen durch ein anderes Selbstmordattentat 56 französische Fallschirmjäger um.) Ein Präsident der Demokraten hätte sich damals höchstwahrscheinlich zu einem massiven Vergeltungsschlag drängen oder voll in den libanesischen Bürgerkrieg hineinziehen lassen.
Der republikanische Präsident Ronald Reagan dagegen – schlau, wie er war – lenkte die Amerikaner durch eine Invasion auf der winzigen Karibikinsel Grenada ab, während er still und leise den Rest der im östlichen Mittelmeer stationierten US-Marines abzog.
Dass die Attentate von Sarajevo und Manhattan dagegen zum Auslöser von globalem Chaos und Blutvergießen wurden, hat seinen Grund darin, dass in beiden Fällen zwischen Angreifern und Angegriffenen ein faktisches Einverständnis existierte. Ich meine damit nicht die Verschwörungsmythen – 1914 die von britischen Intrigen in der Balkanregion und 2001 die von Mossad-Agenten, die das World Trade Center in die Luft jagten –, sondern wohlbekannte Fakten.
Der Generalstab des Deutschen Kaiserreichs hatte schon 1912 beschlossen, die erstbeste Gelegenheit zu einem Krieg zu nutzen; und die mächtige Gruppe der Neocons um George W. Bush hatte sich bereits vor der endgültigen Auszählung der Stimmen in Florida, die Bush junior zum Präsidenten machten, für den Sturz der Regime in Bagdad und Teheran starkgemacht.
Die Hohenzollern wie die Texaner suchten also nach einem geeigneten Casus Belli, der ihr militärisches Vorgehen legitimieren und die heimische Opposition zum Schweigen bringen sollte. Dem preußischen Militarismus wurde das Attentat der „Schwarzen Hand“ – einer vom serbischen Generalstab finanzierten terroristischen Gruppe – zum richtigen Zeitpunkt serviert.
So wie die Al-Qaida-Horrorshow von Manhattan dem Weißen Haus das göttliche Recht verlieh, seine Feinde zu foltern, in Geheimgefängnissen zu halten und mittels Fernsteuerung zu töten. Damals schien es beinahe, als hätten Bush und Cheney einen Staatsstreich gegen die amerikanische Verfassung durchgezogen. Und doch konnten sie mit berechtigtem Zynismus auf eine lange Liste historischer Präzedenzfälle verweisen.
Um es ganz platt zu sagen: In der Geschichte der Erweiterung des US-amerikanischen Machtbereichs begann jedes neue Kapitel mit demselben Satz: „Unschuldige Amerikaner wurden auf hinterhältige Weise angegriffen …“
Das gilt für die Attacke auf das Kriegsschiff „Maine“ 1898 im Hafen von Havanna (274 Tote); es gilt für den Untergang der „Lusitania“, die 1915 durch Torpedos eines deutschen U-Boots versenkt wurde (1 198 Tote, darunter 128 US-Amerikaner); es gilt für den Überfall des mexikanischen Revolutionärs Pancho Villa auf die Kleinstadt Columbus, New Mexico, 1916 (18 getötete US-Bürger); und es gilt für den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor (2 402 Tote).
Dasselbe Muster
Das Muster ist immer dasselbe: Ein Überraschungsangriff, rechtschaffene nationale Empörung, Vorwand für die Umsetzung insgeheim verfolgter Pläne. Historiker können noch viel mehr Fälle aufzählen: die Belagerung der US-Gesandtschaft in Peking (1899), der angebliche Verrat von Emilio Aguinaldo vor der Eroberung von Manila (1899), verschiedene Überfälle auf US-Banken und US-Unternehmer in Zentralamerika und im karibischen Raum (zwischen 1900 und 1930), die japanischen Bomben auf das US-Kriegsschiff „Panay“ (1938), der Einmarsch der chinesischen Armee in Nordkorea (1950), der „Zwischenfall“ im Golf von Tonkin, mit dem die Eskalation des Vietnamkriegs begründet wurde (1964), die Kaperung der „Pueblo“ durch Nordkorea (1968); das Aufbringen der „Mayaguez“ durch die Kambodschaner (1975), die Geiselnahme in der US-Botschaft von Teheran (1979), die gefährdeten US-amerikanischen Medizinstudenten in Grenada (1983), die bedrängten US-Soldaten in Panama (1989) und so weiter.
Diese Liste ist bei weitem nicht erschöpfend: Die Gleichzeitigkeit von Selbstmitleid und militärischer Intervention in der Geschichte der USA ist unerschütterlich. Im Namen „unschuldiger Amerikaner“ wurden Hawaii und Puerto Rico annektiert, die Philippinen kolonisiert, Nationalbewegungen in Nordafrika und China bestraft, zwei Invasionen in Mexiko unternommen, eine ganze Generation auf den Schlachtfeldern in Frankreich verheizt (und zu Hause Leute mit abweichender Meinung eingesperrt), Patrioten in Haiti, der Dominkanischen Republik und Nicaragua massakriert, Militärdiktaturen in Lateinamerika unterstützt und in Komplizenschaft mit Israel arabische Zivilisten routinemäßig ermordet.
Irgendwann – und vielleicht früher, als wir denken – wird sich sicher ein neuer Edward Gibbon(1) aus Indien oder China daranmachen, die Geschichte vom "Verfall und Untergang des amerikanischen Imperiums" zu verfassen. Hoffentlich wird dieses Buch nur ein Band in einem umfassenden und geschichtsoptimistischen Werk sein – die "Renaissance Asiens" vielleicht – und nicht ein Nachruf auf die Zukunft der Menschheit, die vom implodierenden amerikanischen Imperium mit in den Abgrund gerissen wurde.
Wer immer diese Studie schreiben wird, sie oder er wird wahrscheinlich die selbstgerechte amerikanische "Unschuld" als eine der fatalsten Ursachen des nationalen Verfalls klassifizieren – und Präsident Obama als deren reinste Verkörperung. Denn was werden künftige Generationen rückblickend als das größere Verbrechen ansehen: den Albtraum Guantánamo geschaffen zu haben oder ihn unter Missachtung der weltweiten öffentlichen Meinung und der eigenen Wahlversprechen erhalten zu haben?
Superheld Petraeus
Obama wurde gewählt, um die Soldaten wieder nach Hause zu bringen, die Gulags zu schließen und die verfassungsmäßigen Grundrechte wiederherzustellen; in Wahrheit wurde er Testamentsvollstrecker der Bush-Ära, ein bekehrter Konvertit, der an CIA-Spezialoperationen, Killerdrohnen und gigantische Geheimdienstbudgets glaubt, an eine orwellsche Überwachungstechnologie und an Geheimgefängnisse, und der sich zum Kult des Superhelden Petraeus bekennt, den er vom General zum CIA-Direktor gemacht hat.
Tatsächlich könnte unser "Antikriegs"-Präsident die USA noch tiefer in die Finsternis verstricken, als es sich heute irgendjemand vorzustellen wagt. Und je entschlossener Obama sich mit der Rolle als Befehlshaber der Delta Force und der Navy Seals identifiziert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Demokraten künftig den Patriot Act revidieren (2) oder das Recht des Präsidenten infrage stellen, Feinde der USA heimlich ins Gefängnis werfen oder ermorden zu lassen.
Verstrickt in Kriege mit Phantomen, wurde Washington in den vergangenen Jahrzehnten von allen wichtigen politischen Entwicklungen völlig überrumpelt. Es hat die tatsächlichen Sehnsüchte der arabischen Straße falsch verstanden, den Aufstieg der Türkei und Brasiliens zu unabhängigen Mächten ignoriert, Afrika vergessen und seinen Einfluss auf Deutschland weitgehend verloren, ebenso auf Israels immer arrogantere Reaktionäre. Es ist nicht einmal gelungen, einen stimmigen politischen Rahmen für das Verhältnis zu China zu entwickeln, dem Hauptgläubiger und zugleich Hauptrivalen der USA.
Aus chinesischer Sicht – also aus der vermutlichen Perspektive der künftigen Gibbon-Nachfolgerin – zeigen die Vereinigten Staaten die beginnenden Symptome eines "gescheiterten Staats". Wenn die Haltung des US-Kongresses in der Schuldenfrage von der halbamtlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua als "in gefährlicher Weise unverantwortlich" gescholten wird oder wenn führende chinesische Politiker sich offen besorgt über die Stabilität der politischen und ökonomischen Institutionen der USA äußern, läuft ganz offensichtlich etwas ganz grundsätzlich falsch. Zumal in Washington die wahnsinnige Brut von 9/11 in der Kulisse steht, Gewehr bei Fuß und Bibel in der Hand – als republikanische Präsidentschaftskandidaten.
Fußnoten:
(1) Edward Gibbon, „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“, 8 Bände, 1776 bis 1788. Deutsch: „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“ (1. Teil), München (dtv) 2003.
(2) Der umstrittene USA Patriot Act wurde im Oktober 2001 verabschiedet und im März 2006 überarbeitet und bestätigt. Viele Artikel dieses Gesetzes verstoßen gegen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien, insbesondere gegen das Recht auf Privatsphäre. Siehe: Jean-Claude Paye, „USA Patriot Act“, "Le Monde diplomatique, September 2006
Aus dem Englischen von Neils Kadritzke
© Agence Globale, für die deutsche Übersetzung: http://www.monde-diplomatique.deLe Monde diplomatique, Berlin
Le Monde diplomatique Nr. 9623 vom 14.10.2011, Seite 3, 356 Zeilen, Dokumentation, Mike Davis
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