Aus Angst vor der Hochzeit: Jungfräulichkeit per Operation
Beratungsstellen schlagen Alarm: Immer mehr junge Frauen wollen sich das Jungfernhäutchen nähen lassen.
BERLIN taz Immer mehr junge Frauen wollen sich durch eine Operation das Jungfernhäutchen rekonstruieren lassen. Darauf wies die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes gestern gemeinsam mit Berliner Beratungsstellen hin.
"Die Zahl der Frauen, die wegen dieses speziellen Problems zu uns kommen, hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen", sagte Christiane Tennhardt, Frauenärztin beim Familienplanungszentrum Balance. Sie selbst beantworte mindestens zwei E-Mails pro Woche mit Anfragen zu diesem Thema. Die meisten Frauen seien zwischen 18 und 24 Jahren alt und kämen aus muslimischen Familien, "oft in zweiter und dritter Generation", betonte Sibylle Schreiber von Terre des Femmes.
Für die meisten Frauen werde das Problem vor einer Hochzeit akut. Viele Frauen, die die Beratung in Anspruch nehmen, hätten ihre Sexualität zuvor offen gelebt. "In einigen Fällen spielt aber auch sexuelle Gewalt, oft auch in der eigenen Familie, eine Rolle", berichtete Jutta Pliefke, Frauenärztin bei pro familia.
Vor einer Hochzeit steige der Druck auf die Frauen, ihre Jungfräulichkeit und damit die Ehre der Familie unter Beweis zu stellen. Die Beratungsstellen fordern deshalb, mit dem falschen "Mythos der Jungfräulichkeit" aufzuräumen. "Das Jungfernhäutchen und die Jungfräulichkeit haben nichts miteinander zu tun", sagte Schreiber von Terre des Femmes. "Etwa die Hälfte aller Jungfrauen blutet beim ersten Geschlechtsverkehr nicht", erklärte Jutta Pliefke von pro familia. Hinsichtlich des Tabuthemas bestehe intensiver Aufklärungsbedarf. Der Wissensstand unter den Jugendlichen sei erschreckend, sagte Nursen Aktas von pro familia.
In der Beratung werde versucht, gemeinsam mit den betroffenen Frauen "die individuelle Situation der Hochzeitsnacht zu bewältigen". Dazu gebe es verschiedene, zum Teil traditionelle Tricks, wie das Blut aufs Laken gelangen könne. Zum Schutz der betroffenen Frauen dürften diese jedoch nicht öffentlich werden.
Nur wenn die Frauen auf einer Operation bestehen, unterstützen die Anlaufstellen die Betroffenen bei der Auswahl des behandelnden Arztes. "Die Kosten für die Behandlung variieren zwischen 150 und 3.000 Euro, sagte Tennhardt. Viele Ärzte betrieben ein Geschäft mit der Not der Frauen. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten des Eingriffs nicht. Wie viele FrauenärztInnen in Deutschland die Operation durchführen, sei unbekannt. Zudem gebe es weder einen medizinischen Standard für diesen Eingriff noch Studien zu möglichen Nebenwirkungen. "Manche Ärzte bekommen den Eingriff während ihrer Ausbildung in der Klinik unter der Hand gezeigt", sagte Tennhardt.
Langfristig wollen die Beratungsstellen erreichen, dass Mädchen und Frauen ihre Sexualität selbstbestimmt leben können. Deshalb dürfe es nicht nur darum gehen, wie Frauen ein intaktes Jungfernhäutchen vorgaukeln können, so Aktas. Dies zementiere traditionelle Geschlechterrollen. Terre des Femmes fordert, dass sich MigrantInnenverbände mit dem Thema befassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten