Auftakt im Wirecard-Prozess: Fünf Stunden Verlesung der Anklage
Am Anfang des Mammutprozesses um Wirecard geht es erst mal um die Wucht der Vorwürfe. Der Hauptangeklagte gibt sich betont entspannt.
Sie sollen, so formuliert es Staatsanwalt Matthias Bühring, eine „kriminelle Bande“ gebildet haben. Die Kurzfassung der Anklageschrift umfasst 89 Seiten. Die meisten Geschäfte der im Juni 2020 binnen weniger Tage zusammengebrochenen Firma soll es gar nicht gegeben haben, vor allem jene im Ausland mit dem weit verzweigten Netz von Tochter- und Partnerunternehmen. Alles ein großer Bluff, so die Schlussfolgerung.
Bei Wirecard, das 2018 zur Krönung in den Deutschen Aktienindex DAX aufgenommen worden war, handelt es sich demnach um den größten Fall von Wirtschaftskriminalität in der Geschichte der Bundesrepublik. Als Schäden werden aufgelistet: 3,1 Milliarden Euro geplatzter Bankkredite, 20 Milliarden Verlust bei den Aktionären, unter denen auch viele Privatanleger waren, die etwa für die Rente vorsorgen wollten. Sowie 1,9 in Singapur verschwundene Milliarden, von denen niemand weiß, ob es sie denn gegeben hat.
Dieses fehlende Geld sorgte letztlich dafür, dass die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young dem Unternehmen nicht wie die Jahre zuvor eine korrekte Buchführung bescheinigten. Der Börsenkurs rauschte in den Keller, Wirecard war pleite.
Brauns größtes Problem: Kronzeuge Bellenhaus
Gegen halb zehn wird Markus Braun in den Hochsicherheits-Gerichtssaal an der Justizvollzugsanstalt Stadelheim geführt. Er trägt einen dunklen Rollkragenpulli und ein gleichfarbiges Jackett, nach zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sieht er gut aus, schlank. Freundlich und scheinbar gut gelaunt beantwortet er die Fragen des Vorsitzenden Richters Markus Födisch zur Person. Ob sein gegenwärtiger Wohnsitz weiterhin die Justizvollzugsanstalt Stadelheim ist? „Absolut richtig“, sagt Braun.
Direkt hinter Braun, ihm im Genick, sitzt sein größtes Problem: der Mitangeklagte Bellenhaus, ebenfalls weiter in U-Haft, Kronzeuge. Bei den Ermittlern soll er umfangreich ausgesagt und viele der Betrugsvorwürfe bestätigt haben. Braun wie auch Bellenhaus wollen aussagen. Während Braun sich weiterhin für unschuldig hält und die Position vertritt, dass er von den Machenschaften nichts gewusst habe, dürfte Bellenhaus ihn schwer belasten.
Mit Pausen, aber insgesamt mehr als fünf Stunden lang rattert die Staatsanwaltschaft die Anklage runter. Von verschiedensten Treuhandkonten etwa in Dubai oder auf den Philippinen ist die Rede – „tatsächlich gab es die Geschäfte nicht“, so der Anklagevertreter.
Reihenweise seien „Reports ohne Grundlage“ erstellt worden, man habe „unzutreffende Bilder der Lage des Unternehmens weitergegeben“. In den Bilanzen seien „Vermögenswerte, die nicht existierten“, gelistet. Man habe die Verhältnisse „unrichtig abgebildet“. Der Staatsanwalt meint: „90 Prozent des Umsatzes waren tatsächlich nicht vorhanden.“ So geht es weiter und weiter und weiter.
Braun wird wohl den flüchtigen Marsalek belasten
Die Motive der Bandenmitglieder seien offensichtlich: Das Unternehmen sollte immer weiter wachsen, die Kurse steigen. So sorgten sie für ihr eigenes Einkommen und für erfolgsabhängige Boni. Zudem sind demnach Geldbeträge in unbekannter Höhe aus der Firma entwendet worden.
Der zweite Hauptverdächtige, das Vorstandsmitglied Jan Marsalek, ist nicht in München. Ihm war direkt nach der Pleite die Flucht gelungen, wohl nach Moskau. Braun wird im Laufe des Prozesses wohl versuchen, die Schuld von sich auf Marsalek zu schieben, der ihn hintergangen habe. Und das Verhältnis so darstellen, als hätten sie beide ohne größere Berührungspunkte nebeneinander her gearbeitet. In der Anklage ist aber immer wieder die Rede davon, dass Braun und der „M.“ genannte Marsalek gemeinsame Mitglieder der Bande gewesen seien.
Die Anklage ist verlesen, nun müssen die Vorwürfe auch bewiesen oder aber widerlegt werden. Dafür besteht viel Zeit, 100 Verhandlungstermine bis zum Ende des Jahres 2023 sind bisher festgesetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“