: Aufschlussreicher väterlicher Fauxpas
Lesen oder nicht lesen: Die Lektüre von Carlos Fuentes erscheint einem besorgten, streng katholischen Vater, der freilich Minister im Kabinett Fox ist, anstößig. Gleichzeitig bleibt die Bedeutung des kulturellen Modernisierungsbegriffs cuidadanización völlig unklar. Über Kulturkämpfe im neuen Mexiko
von ANNE HUFFSCHMID
Carlos Abascal ist ein fürsorglicher Familienvater. Als solcher hat er klare Vorstellungen davon, welche Bücher dem Seelenheil seiner 14-jährigen Tochter zu- oder abträglich sind. Als eine junge Lehrerin der Schülerin eines privaten Nonnenkollegs die Lektüre einer Novelle von Carlos Fuentes, „Aura“, empfiehlt, beschwert sich der empörte Vater bei der Schuldirektion. Als Beweis sind dem Beschwerdebrief unterstrichene Stellen des weltberühmten Fuentes-Bändchens beigefügt („Aura öffnete sich wie ein Altar“). Die kühne Junglehrerin wird verwarnt, Wochen später geht sie mit dem Schreiben an die Presse. So weit, so privat.
Was den Literaturgeschmack des Herrn Abascal zum ersten Kulturschock im „neuen“ Mexiko macht, ist der Umstand, dass der fromme Katholik zugleich als Arbeitsminister im Kabinett des seit Dezember 2000 amtierenden Präsidenten Vicente Fox fungiert. Gerade weil der – ebenfalls katholische – Wirtschaftsliberale als eher moderater Pragmatiker gilt, so notiert die Kolumnistin Denise Dresser, habe sein bigotter Minister „Blumen und Pralinen“ für die Klarstellung verdient, dass „das pragmatische Gesicht des Foxismus mit dem etatistischen Gesicht des Konservativen koexistiert“.
Zwar erntete der väterliche Fauxpas in der mexikanischen Öffentlichkeit des Landes, die weitgehend immun gegen ein moralkonservatives Rollback zu sein scheint, eher Spott als Zustimmung. Für einen Rücktritt des Arbeitsministers, der zuvor mit der Warnung vor einer drohenden „Vermännlichung“ erwerbstätiger Mütter von sich reden machte, aber reichte es bis heute nicht.
In der eigentlichen Kulturpolitik hat sich die neue Regierung nun eher „Modernisierung“ denn Moralisierung auf die Fahnen geschrieben. Schon die erste Personalentscheidung aber ist im linksliberalen Kulturbetrieb nicht unumstritten: zur Vorsitzenden des Nationalen Kunst- und Kulturrates (CNCA), der obersten Kulturbehörde des Landes, berief Fox die Fernsehmoderatorin Sari Bermúdez. Zwar gilt die gelernte Dolmetscherin als teamfähig und medienerfahren, anders als ihre Vorgänger und Mitbewerber aber verfügt sie über keinerlei akademische Meriten oder gar kulturpolitische Erfahrung.
Ihr Arbeitsauftrag lautet, so eines der Lieblingswörter der Fox’schen „Bürgerregierung“, cuidadanización. Was genau es bedeutet, ist selbst unter Spanischkundigen unklar. So etwas wie Bürgerbeteiligung und Dezentralisierung, Entstaatlichung oder schlicht die Einrichtung von kommunalen Kulturräten im ganzen Land. Klar ist nur, dass angesichts der knappen Kassen – das Kulturbudget liegt mit 450 Millionen Dollar für 2001 noch unter dem des Vorjahres und mit einem Anteil von 0,57 Prozent der Staatsausgaben weit unter der Unesco-Empfehlung von 1,5 Prozent – jetzt verstärkt private Sponsoren und Mäzene aktiviert werden sollen und müssen.
Während Bermúdez „cuidadanización“ auf die handliche Losung bringt, „Kultur in die letzte Ecke des Landes zu tragen“, bleiben Experten skeptisch. „Die Kultur bringt man nirgendwohin“, sagt die Kunsthistorikerin Graciela Schmilchuk. Im Schlagwort der Dezentralisierung sieht sie die Gefahr eines „privatistischen Populismus“, der zunehmend auf „Gefälligkeitskultur“ ausgerichtet sei. Auf der Strecke blieben dabei womöglich jene Bereiche „kulturellen Risikos“, etwa experimentelle Kunstformen, die weder Bürger- noch Investorengeschmäcke bedienen und jenseits von Freizeit, Unterhaltung und Didaktik angesiedelt sind. Tatsächlich will Bermúdez ihre Schwerpunkte ausdrücklich in letztgenannte Bereiche setzen: Angestrebt ist die verstärkte Verzahnung mit Tourismus (Kulturreisen), Bildung (Kunsterziehung) und Medien (Kulturfernsehen).
Andere werten die Auflösung einer staatsorientierten Kulturpolitik optimistischer. Bedeutete Fördern im alten Regime quasi automatisch Funktionalisieren, wenn auch eher aus politischen als aus ökonomischen Kalkülen, so ist Kultur für eine wirtschaftsliberale Regierung womöglich nicht mehr so ohne Weiteres funktional. „Und das könnte ja auch von Vorteil sein“, meint Bernd Scherer, Leiter des mexikanischen Goethe-Instituts. Nachdem die Kulturpolitik der postrevolutionären Regierung siebzig Jahre lang im Zeichen „nationaler Identität“ gestanden hatte, sieht Scherer jetzt zudem Signale für eine „stärkere internationale Positionierung“. So etwa die Besetzung einiger Schlüsselposten mit Nicht-Mexikanern oder die Aussendung von 20 Vertretern einer neuen Künstlergeneration als Kulturattachés in alle Welt. Eine von ihnen ist die Schauspielerin Liliane Saldaña, langjährige Mitspielerin im Kresnik-Ensemble, die das „neue Mexiko“ in Berlin vertreten wird. Ihre „Mission“ sieht die Schauspielerin vor allem darin, „den Leuten zu zeigen, dass wir nicht nur Mariachi, Tequila und Folklore sind“. Eine Kostprobe davon wird nächsten Herbst im Berliner Haus der Kulturen unter dem Titel „MEXartes-berlin.de“ unter Mitwirkung von Conaculta und Goethe-Institut zu sehen sein.
Der bislang weitreichendste kulturpolitische Vorstoß kam jedoch nicht aus dem Hause Bermúdez, sondern pikanterweise vom Finanzminister. Nach dem Entwurf einer tief greifenden Steuerreform, über die derzeit im Kongress gestritten wird, sollen neben Grundnahrungsmitteln und Medikamenten künftig auch alle Arten von Druckerzeugnissen mit einer 15-prozentigen Mehrwertsteuer belegt werden. Eine solche „Lese-Steuer“, empört sich der Lyriker und Romancier Alberto Ruy Sánchez, sei letztlich „effektiver als jede Zensur“. Tatsächlich würden nach einer Studie der nationalen Verlagskammer Caniem mit dem Aufpreis die Buchverkäufe um fast 20 Prozent zurückgehen. Schon jetzt liegt Mexiko nach einer Unesco-Studie zum Bücherkonsum unter 108 untersuchten Ländern auf dem vorletzten Platz. Und auch ohne Mehrwertsteuer hält sich die Zahlungsbereitschaft für Gedrucktes in engen Grenzen: Während Deutsche im Jahr pro Kopf 102 Dollar für Bücher ausgeben, die US-Bürger immerhin 89 Dollar, beläuft sich das Pro-Kopf-Budget in Mexiko auf ganze acht Dollar. So mobilisierte das Gros aller namhaften LiteratInnen gegen die geplante Steuereinführung. Neben demonstrativen Buchspenden an den Finanzminister („damit er die Lust am Lesen entdeckt“) veranstalteten sie vor einigen Monaten eine öffentliche Marathonlesung vor dem Palast der Schönen Künste.
Gelesen wurde, wie sollte es anders sein, vor allem das Fuentes-Büchlein. Überhaupt ist dies ein paradoxer Nebeneffekt der „Aura-Affäre“: So oft und ausführlich wurde schon lange kein literarisches Werk, und zwar just in seinen vermeintlich anrüchigsten Passagen, zitiert. Die Restbestände der vor 40 Jahren erschienen Novelle waren schnell verkauft, eine Neuauflage ist avisiert. So ließ Carlos Fuentes gut gelaunt verlauten, er erwäge, dem Arbeitsminister eine zehnprozentige Beteiligung an den Tantiemen zukommen zu lassen – „er ist schließlich mein bester Werbemann“.
Sollte die Buchsteuer tatsächlich kommen, so bliebe wohl nur zu hoffen, dass das Beispiel des frömmelnden Arbeitsministers Schule macht. Denn tatsächlich macht nichts neugieriger als Zensurversuche – und Neugier schürt bekanntlich die Nachfrage.
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