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Aufarbeitung des RadikalenerlassesDie Zeit der Berufsverbote

Niedersachsen legt seinen Bericht über Berufsverbote und Überwachungen in Folge des Radikalenerlasses vor. Die Landesbeauftragte fordert Entschädigungen.

Schon in den 1970ern traten Demonstranten wie hier in Oldenburg gegen Berufsverbote ein Foto: Imago

GÖTTINGEN taz | Rolf Günther trat am 1. Februar 1976 eine Stelle als Lehrer an einem Gymnasium in Wolfenbüttel an, um dort Gemeinschaftskunde zu unterrichten. Doch schon in der zweiten Unterrichtsstunde war Schluss. Günthers Vereidigungsurkunde sei nicht eingetroffen, sagte der Schulleiter. Am 2. Februar war der Pädagoge wieder raus aus dem Schuldienst.

Eine anschließende Anhörung bei der Bezirksregierung besiegelte das Berufsverbot: Dass er an der Uni für den der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nahe stehenden Marxistischen Studentenbund kandidiert und die DKP-Hochschulgruppe dem „Genossen Rolf Günther“ in einer Anzeige zur Hochzeit gratuliert hatte, reichte der Behörde, ihn als DKP-Mitglied und Verfassungsfeind zu verorten.

Günther war ein Opfer des sogenannten Radikalenerlasses vom Februar 1972. Initiiert von der damaligen sozial-liberalen Bundesregierung unter der Führung von Willy Brandt, sollte dieser Runderlass der Landesregierungen die Beschäftigung sogenannter Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst verhindern. Beamte und Angestellte hatten sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen und für diese einzutreten.

Weil jeder Einzelfall geprüft und entschieden werden musste, gab es vor Einstellungen, aber auch zur Überprüfung bestehender Dienstverhältnisse eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Ein Bewerber, dem der Geheimdienst verfassungsfeindliche Aktivitäten bescheinigte, wurde nicht eingestellt oder aus dem Dienst entfernt.

Der Erlass sollte sich zwar gegen Links- und Rechtsextremisten richten, betroffen waren aber vor allem Mitglieder kommunistischer und anderer linker Organisationen. 1979 kündigte die in Bonn regierende Koalition aus SPD und FDP den Radikalenerlass auf, in den Bundesländern dauerte seine Abschaffung bis zum Beginn der 1990er-Jahre. Bis dahin wurden in der Bundesrepublik insgesamt rund 3,5 Millionen Personen überprüft. An die 2.000 Lehrer und Hochschullehrer, Lokomotivführer und Briefträger wurden nicht eingestellt oder entlassen.

Bei vielen von denen, die betroffen sind, gibt es bis heute psychische Einschränkungen bis hin zu Depressionen

Jutta Rübke (SPD), Landesbeauftragte für die Aufarbeitung des Radikalenerlasses

In Niedersachsen hob die damalige rot-grüne Landesregierung den Radikalenerlass im Jahr 1990 auf. Und im Dezember 2016 beschloss der Landtag, dass Niedersachsen als erstes Bundesland die Zeit der Berufsverbote wissenschaftlich aufarbeiten solle. Gestern stellte die Landesbeauftragte Jutta Rübke ihren rund 200 Seiten umfassenden Bericht vor. Die frühere SPD-Landtagsabgeordnete hat mit einem Team ein Jahr lang Betroffene von Berufsverboten befragt und ihre Schicksale recherchiert.

In rund 172.000 Fällen forschten in Niedersachsen demnach der Verfassungsschutz und die Staatsschutzabteilungen der Polizei nach etwaigen Verfassungsfeinden. 200 neue Mitarbeiter stellte der Landes-Verfassungsschutz für diese Aufgabe ein. „Jede Form der öffentlichen Aktivität wurde erfasst“, sagt der an der Aufarbeitung beteiligte Historiker Wilfried Knauer. Die staatliche Schnüffelei und Registrierung habe sich auch auf Sticker, Aufkleber oder vermeintlich verfängliche Leserbriefe in Zeitungen erstreckt, sogar Familienanzeigen seien damals durchforstet worden. 141 Bewerber durften nicht in den öffentlichen Dienst, 271 wurden entlassen.

Die Betroffenen standen quasi über Nacht auf der Straße. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nahm Rolf Günther Hilfsarbeiten an und fuhr LKW. An der Volkshochschule Hannover konnte er einige Kurse geben: Rhetorik für Senioren und Englisch im Knast. Schließlich bekam er eine halbe Stelle in einer Buchhandlung. Es dauerte bis 1991, bis Günther wieder verbeamtet wurde.

„Bei vielen von denen, die direkt und unmittelbar betroffen sind, gibt es bis heute psychische Einschränkungen bis hin zu Depressionen“, schreibt Rübke in der Studie. Zugleich verlangt sie Konsequenzen. Das Thema der damaligen Berufsverbote müsse öffentlich diskutiert und Teil der politischen Bildung im Land werden. Rübke will dem Landtag zudem empfehlen, auch über eine finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu beraten. „Das ist eine politische Aufgabe“, sagte sie.

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1 Kommentar

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  • Berufsverbote -

     

    Das - ist die zutreffende Bezeichnung -

    Für diesen Extremistenbeschluß.

    Mehr als ein Schandfleck für diese

    Republik des Grundgesetzes.