Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Was geschah mit den jüdischen Ärzten?
Beim Thema Ärzte und Nationalsozialismus liegt noch vieles im Dunkeln. Die Historikerin Anna von Villiez zeigt, dass die Mär vom "roten Hamburg" unzutreffend ist, die Künstlerin Judith Haman trägt das Thema an seinen Ort.
HAMBURG taz | "Wasche meine Hände": Mit ihrer Ausstellung zur Hamburger Ärzteschaft im Nationalsozialismus greift die Künstlerin Judith Haman in zweifacher Weise auf das Bild des Reinigungsaktes zurück. Als Ritual gehört das Händewaschen zum Berufsstand der Mediziner. Und als Gleichnis steht es für ihren Umgang mit der Geschichte. Als Schlüsselfigur versteht Haman dabei Pontius Pilatus, der, nachdem er Jesus zum Tode verurteilt hatte, sein Handeln als Gesetz seiner Obrigkeit rechtfertigte und seine Hände in Unschuld wusch.
Dass sich eine ganze Berufsgruppe erst zu spät zur Schuld der Mediziner im Nationalsozialismus bekannt hat, hat Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe zuletzt im März eingeräumt. Bei einer Gedenkveranstaltung in der Berliner Neuen Synagoge stellte Hoppe einen Forschungsbericht vor, in dem ein Expertenteam um den Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte den Stand der Aufarbeitung untersucht hat.
Jütte kommt zu dem Schluss, dass die medizinischen Verbrechen wie Menschenversuche, Zwangssterilisationen und Krankenmorde bereits gut aufgearbeitet worden sind. Anders sehe es bei den Einsätzen von Ärzten in den Konzentrationslagern aus, und auch das Schicksal der 8.000 bis 9.000 "jüdischen Ärzte", die nach 1933 in die Emigration getrieben oder ermordet wurden, sei noch weitgehend unerforscht.
Für ihren Versuch, diese Forschungslücke für Hamburg zu schließen, bekam die Hamburger Historikerin Anna von Villiez bei der Gedenkveranstaltung im März einen Forschungspreis von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Vereinigung. Ihre Lokalstudie "Mit aller Kraft verdrängt. Entrechtung und Verfolgung ,nicht arischer' Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945" widmet sich dem Schicksal der etwa 450 "jüdischen Ärzte" in Hamburg während der NS-Zeit.
Schon die Bezeichnung "jüdische Ärzte" war laut Villiez eine Fremdzuschreibung der nationalsozialistischen Herrschaft - hatte ein großer Teil der Opfergruppe doch zu diesem Zeitpunkt keine Bindung ans Judentum mehr. Ihre schrittweise Entrechtung begann bereits 1933, als ihnen die Kassenzulassung entzogen wurde. Nur Sonderregelungen erlaubten es bestimmten Ärzten, weiter zu praktizieren. "Frontkämpfer" des Ersten Weltkrieges und alle, die vor dem Ersten Weltkrieg niedergelassen waren, wurden ausgenommen. Zu den weiteren gesetzliche Vorstöße gehörte das Verbot, Medizin zu studieren.
Allen verbliebenen "jüdischen Ärzten" wurde im Herbst 1938 die Approbation entzogen. Nach dem Berufsverbot wanderten die meisten Ärzte aus. In der "Reichskristallnacht" eskalierte die Gewalt gegen Juden, viele Hamburger Ärzte wurden kurzfristig nach Sachsenhausen deportiert. Dies führte zum Exodus der in Hamburg verblieben Ärzte.
Nach 1938 gab es in Hamburg nur noch 14 "jüdische Ärzte", die weiter praktizieren und ihre Sprechzeiten ausschließlich am israelitischen Krankenhaus ausüben durften. Ein Arzt für jede Fachrichtung und ein paar Allgemeinärzte, die für die Versorgung der in Hamburg lebenden Juden blieben. Sie mussten sich von nun an "jüdische Krankenbehandler" nennen, ein Beruf, der negativ konnotiert und mit Pfuschertum verbunden war. Sie stellen einen großen Teil der 40 Hamburger Ärzte, die im Konzentrationslager ermordet wurden. Unter ihnen waren auch sechs Ärztinnen.
Indem sie die Handlungsspielräume beleuchtet, die die ausführenden Entscheidungsträger hatten, zeigt die Historikerin auf, dass die alte Mär vom "roten Hamburg" völlig unzutreffend ist. Schon vor 1933 hatte eine Gruppe von nationalsozialistischen Ärzten die ärztlichen Strukturen der Kassenärztlichen Vereinigung (KVH) und der Ärztekammer gezielt übernommen. Mit vorauseilendem Gehorsam wurden politisch missliebige und "jüdische" Ärzte systematisch ausgeschaltet.
Die historische Aufarbeitung kommt in Hamburg nur langsam voran. Erst 2006 brachte die Ärztekammer eine Gedenktafel an ihrem Ärztehaus an. Und während die Kammer Villiez mit mehreren Spendenaufrufen bei ihrer Forschung unterstützte, fiel die Reaktion der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg zurückhaltender aus. Immerhin gewährte Vereinigung der Historikerin Zugang zu ihrem Archiv, in dem die "jüdischen Ärzte" als solche klassifiziert und erfasst wurden.
Daran, dass es die Kassenärztliche Vereinigung war, die die Entwicklung im Nationalsozialismus forcierte, erinnert Judith Haman mit ihrer Ausstellung. Nachdem Villiez Forschungsarbeit bei der Vereinigung vorgestellt wurde, sei sie allzu schnell wieder in den Bibliotheken verschwunden, meint die Künstlerin. Mit einer künstlerischen Intervention, bei der die Kunst als trojanisches Pferd dient, geht sie darum an den Ort des Geschehens. Um die Kassenärztliche Vereinigung mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren, trägt sie das Thema an den Ort, an den es eigentlich gehört. "Mein Wunsch ist es, die Ausstellungsfläche in einen Diskursraum zu verwandeln", so die Künstlerin.
Mit ihrer Ausstellung geht es Haman nicht, wie in der Erinnerungskultur üblich, darum, die Opfer zu benennen. Die Rauminstallation setzt sich vielmehr mit dem Bild der Täter auseinander. Unter anderem aus den Schriften Ernst Klees nimmt Haman deren Namen, informiert über die Geschichte der Institution und verweist auf die Zusammenhänge.
Indem sie den Ort nutzt, um auf die Geschichte zu verweisen, gerät Haman mit ihrer Ausstellung zum Täterbild zwischen die Fronten der Disziplinen. Die Reaktionen der Künstlerschaft seien eher zurückhaltend, so Haman, die ihre Intervention als eine Herangehensweise versteht, bei der man ausprobiert, was möglich ist.
Die Historikerin Villiez befürchtet allerdings, dass es der Kassenärztlichen Vereinigung eher um eine symbolische Bearbeitung des Themas gehen könnte. Wenngleich es ein guter Schritt sei, dass die Institution ihre Räume für die Ausstellung öffne und sich damit den Diskurs ins Haus hole.
"Die Kassenärztliche Vereinigung setzt zwar ein Zeichen, die Aufarbeitung der eigenen Geschichte als Institution ist dadurch aber noch nicht erfolgt", sagt Villiez. Ihrer Ansicht nach gibt es noch viele offene Fragen. Die Geschichte der Hamburger Ärzteschaft im Nationalsozialismus müsse noch geschrieben werden.
Auch Haman ist skeptisch, ob die Ausstellung als Zeichen für ein Aufarbeitungsinteresse der Kassenärzte zu verstehen ist. "Für die", sagt die Künstlerin, "ist Kunst doch harmlos."
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