: Auf die Zwölf
In Orphans drischt Peter Mullan seine frisch verwaisten Figuren wie Flipperkugeln durch Glasgow ■ Von Oliver Rohlf
Trauer ist relativ und kann manchmal auch die aufregendste Sache der Welt sein – zumindest, wenn es nach Peter Mullan geht. Der frischgebackene Filmemacher – von Berufs wegen Schauspieler und bekannt geworden als Säufer Joe aus Ken Loachs My Name is Joe – beschert den Geschwistern Michael, Thomas, John und Sheila in seinem Regiedebüt Orphans unter anderem ein abgedecktes Kirchendach, ein nebliges Rollstuhl-Happe-ning und eine ungewollte Ladung Sperma ins Gesicht.
In der Nacht vor der Beisetzung ihrer geliebten Mutter läßt er die Vier durch einen Gefühls-Galopp preschsen, den andere wahrscheinlich in 20 Jahren nicht erlebt hätten. Am Anfang steht der Tod von Mutter Flynn und droht, den verwaisten Rest der Familie innerlich zu spalten. Gemeinsam gehen die drei unterschiedlichen Brüder und ihre gehbehinderte Schwester in Glasgow den nächsten Pub um die Ecke, um gemeinsam ihren Schmerz in Lagerbier zu ertränken. Thomas, der Älteste (religiös und entrückt: Gary Lewis), intoniert ein ebenso spontanes wie rührseliges Kneipen-Requiem auf seine Mutter, dessen Ernsthaftigkeit manchen Gästen komisch vorkommt. Kurzerhand haut Bruder Michael den Lästerern ein paar vor den Latz und kassiert in dem anschließenden Gerangel einen Messerstich in die linke Seite. Das wiederum bringt den zornigen Youngster John derart in Rage, dass er sich aufmacht, den verwundeten Bruder zu rächen und den vermeintlichen Klingenkiller zu erschießen.
Während sich also John eine Waffe beim durchgeknallten China-Food-Fahrer Tanga besorgt (totally mad: Frank Gallagher) und Michael auf seinem nächtlichen Taumel durchs urbane Glasgow beschließt, seine Verletzung als Arbeitsunfall zu deklarieren, um Schmerzensgeld zu kassieren, bereitet sich Thomas vor, die tote Mutter mittels einer beseelten Nachtwache zu ehren. Leider ist da noch Sheila, die keine Lust hat, die ganze Zeit in der kalten Kirche herumzusitzen. Thomas, der Eiferer, entlässt seine behinderte Schwester samt Rollstuhl allein in den Regen, und natürlich dauert es keine fünf Minuten, bis sie irgendwo hängen bleibt. Rettung naht in Person eines kleinen Mädchens mit Faschingshut, das die verschücherte Sheila einfach mit zu sich nach Hause nimmt.
Wie Flipperkugeln drischt also Peter Mullan seine Mimen durch vier verschiedene Handlungen, die so gar nicht zu dem vertrauten wie kritischen Sozial-Realismus der Post-Thatcher-Ära anderer Regisseure aus Britannien passen wollen. Nenn' es surreal, wenn Thomas in die farblich überzeichnete Nacht hinaufstarrt, nachdem der Orkan das Kirchendach hinweggefegt hat! Sag' Parabel dazu, dass dort Charaktere Situationen ausgesetzt sind, in denen soziale Gegebenheiten nicht mehr zu gelten scheinen und Schicksale von Menschenhand bestimmt werden müssen! Am Ende ist für Thomas das Haus Gottes oben ohne, hat Michael zwei Liter Blut umsonst verloren, John beinahe ein Vater samt Baby zerschossen sowie Sheila ihre Würde gegen Lethargie eingetauscht. Ein langer, schmerzhafter und vor allem komischer Weg zu der Erkenntnis, dass Nihilismus nichts ist.
Denn zum Schluss herrscht der Tag über die Nacht, gehört Trauern zum Leben und finden Familien in der indischen Curry-Bude zueinander. Und was zählen da schon ein sadistischer Kneipenwirt, der seine Gäste in den Keller schließt, eine hartherzige Nachbarin vom Format einer Else Kling oder eine Madonnenfigur in tausend Scherben?!
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