Auf der Suche nach dem „Unwort“ des Jahres: Seitlich angeordnete Schäden
Hätte wie die Wahrheit auch die Lüge nur ein Gesicht, wären wir besser dran.“ Michel de Montaigne, von dem nicht nur dieser Gedanke stammt (siehe gegenüberliegenden Essay), kannte sich aus in der Kriegspropaganda. Während der Religionskriege des 16. Jahrhunderts in Frankreich gehörte er zur Gruppe der „Politiker“, die für friedliche Lösungen eintrat. Er war unempfindlich gegenüber Schlagworten, aber auch skeptisch hinsichtlich des Versuchs, hinter den Ideologien den jeweils „wahren“ Kern des Streits auszumachen. Daher seine Suche nach Kompromissen.
Mit Wahrheit und Lüge in der Politik beschäftigt sich auch Prof. Horst Schlosser, der zusammen mit drei weiteren Sprachwissenschaftlern und zwei Journalisten die Jury bildet, die das „Unwort des Jahres“ ermitteln soll. Bei dieser Ermittlung geht es, so Schlosser, um ein „besonders krasses Missverhältnis zwischen Wort und bezeichneter Sache“. Kaum ein Zweifel, dass die Wahl der Juroren auf den Begriff „Kollateralschäden“ fallen wird, der jene Verluste an zivilen Menschenleben und Gütern bezeichnet, die durch das Bombardement Serbiens und Montenegros durch die Nato im Frühjahr 1999 verursacht wurden.
Das wird eine glückliche Wahl sein, denn sie erlaubt einen scharfen Blick auf den Krieg um die Begriffe, der jeder bewaffneten Auseinandersetzung vorausgeht, sie begleitet und ihr folgt. Es ist keineswegs so, dass wir der Wahrheit näher kommen, wenn wir das Gegenteil der jeweiligen Propagandaschlagworts für wahr halten. Zu diesem Verfahren hatte George Orwell in der schwarzen Utopie „1984“ gegriffen, wo das „Wahrheitsministerium“ sich natürlich der allgemeinen Verbreitung der Lüge widmet.
Aber das „Verteidigungsministerium“ der Bundesrepublik ist eben nicht das „Kriegsministerium“ – auch nicht nach dem Kosovo-Krieg. Und hinter den „Kollateralschäden“ steckt auch nicht die Wirklichkeit eines ebenso absichtsvollen wie hemmungslosen Bombardements der Zivilbevölkerung. Die Bedeutung des Begriffs „Kollateralschaden“ erschließt sich erst in dem Maße, in dem wir ihn mit dem ideologischen „Gesicht“ der Nato im Kosovo in Verbindung setzen. Wird nämlich die Nato-Intervention an ihrem Anspruch gemessen, der Bevölkerung des Kosovo angesichts der serbischen Agression Nothilfe zu leisten, so müssen die einzelnen Maßnahmen dieser Nothilfe peinlich das Gebot der Verhältnismäßigkeit achten. Im Begriff des Kollateralschadens ist der minutiös genaue, eingegrenzte Bombeneinsatz bereits vorausgesetzt. Der Kollateralschaden stellt sich als bedauerliche, wenngleich minimale Abweichung in einer technisch beherrschten, quasichirurgischen Operation dar. Nicht umsonst entstammen die ersten Wortverbindungen mit dem Adjektiv kollateral (gleich „seitlich angeordnet“) der medizinischen Wissenschaft. Indem wir vom Kollateralschaden sprechen, haben wir das politische und moralische Problem der Grenzen einer militärischen Nothilfe bereits ausgeblendet. Und wir haben die ökonomischen wie ökologischen Langzeitfolgen dieser Schäden aus unserem Gesichtsfeld gewischt.
Instruktiv ist auch die rasche Karriere des Begriffs in den Medien. Sie entspricht der zähen Weigerung, sich mit den ideologischen Grundlagen des Krieges auseinander zu setzen: einer völkerrechtlich ungedeckten, moralisch aufgeladenen und dabei beliebig an- und abschaltbaren Menschenrechtsdemagogie.
Christian Semler
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