: Auf der Suche nach Anschluß
■ Telefonieren in Ost-Berlin ist nach wie vor ein Abenteuer/ Telefonzellen: permanent kaputt/ Westapparate sorgen für falsche Abrechnung
Wäre ich am 24.Mai in Friedrichshain wahlberechtigt gewesen, hätte ich meine Stimme wohl der PDS gegeben. Denn anders als die anderen Parteien, setzt sich die SED- Nachfolgeorganisation laut Bezirksprogramm für »funktionierende Fernsprecher« ein.
Während Wilmersdorfer bei dieser Forderung ins Schmunzeln geraten mögen, traf sie bei den Friedrichshainern mitten ins Schwarze. Im »Parkmarkt« in der Kochhannstraße war das PDS-Ansinnen drei Tage lang im Gespräch, und zumindest die Rentnerin Lotte Schütz machte ihr Kreuzchen deshalb bei den demokratischen Sozialisten. Schon seit zwölf Jahren schmort ihr Telefonantrag beim Fernmeldeamt. Wenn Frau Schütz telefonieren möchte, muß sie 500 Meter zum nächsten Postamt laufen, nach Feierabend und am Wochenende sogar noch weiter — ohne Aussicht auf Erfolg. »Jedes zweite Mal ist die Zelle kaputt«, schimpft die 73jährige. »Früher war das anders.«
Ein Telefonzellen-Test der Stadtteilzeitung 'scheinschlag‘ in Mitte brachte ein ähnliches Ergebnis an den Tag. Von zwanzig Fernsprechern im künftigen Regierungsviertel waren gerade mal sieben intakt — einer davon funktionierte kundenfreundlich ohne Münzeinwurf. »Der Reparaturdienst kommt den Vandalismusschäden nicht hinterher«, bittet Telekom-Sprecher Bernhard Krüger um Verzeihung. Um Abhilfe zu schaffen, würden aber keine neuen Fernsprecher aufgestellt, sondern die leicht knackbaren DDR-Apparate durch robustere Kartenapparate ersetzt. Schon jetzt sei laut Krüger Ostberlin mit 5400 öffentlichen Fernsprechern besser versorgt als der Westteil mit 4.600.
Während die Friedrichshainer PDS im Realo-Stil lediglich funktionierende Telefonzellen fordert, verlangen immer mehr Ossis dreist einen Telefonanschluß in der eigenen Wohnung. In den Fernmeldeämtern stapeln sich nicht weniger als 205.000 unerledigte Anträge. »Ich habe bislang nicht einmal einen Antwortbrief bekommen«, klagt Student Oliver Watzke, der seinen Antrag im November abgeschickt hat. Die Telekom konnte zwar im letzten Jahr 42.000 neue Anschlüsse schalten — dieses Jahr sollen es 70.000 sein — doch Besuch von Monteuren wird Oliver wohl frühestens in zwei Jahren bekommen. »1994 werden alle Haushalte verkabelt sein«, so das mutige Versprechen von Telekom- Sprecher Krüger.
Doch auch glückliche Telefonbesitzer führen in Ostberlin kein leichtes Leben. Bei den Fernmeldeämtern türmen sich über 50.000 Beschwerden über falsche Telefonabrechungen. »Im März hat mir die Telekom 70 Einheiten zu viel berechnet«, schimpft Andreas Weber aus Köpenick, der über seine Telefonate genau Buch führt. Über Fehlberechnungen klagen vor allem Besitzer sogenannter »Doppelanschlüsse«, die sich zwei Haushalte teilen: Schließt der eine Kunde ein nicht postzugelassenes Telefon an, berechnet der verwirrte Einheitenzähler die Gespräche schon mal beim anderen.
Westtechnik am maroden Ostnetz sorgt auch in größeren Betrieben für Chaos. »Wir können das Telefax kaum benutzen« klagt DT-64-Mitarbeiter Michael Rödger. »Der Nummernspeicher wählt so schnell, daß die Relais nicht hinterherkommen«. Auch im Treptower Verlagshaus wünschen sich viele Mitarbeiter ihre alten RFT-Apparate zurück. »So viele fremde Gespräche hatte ich früher nie in der Leitung«, sagt Mitarbeiterin Regina Sommer. Ihre Begründung: »Ost und West passen eben nicht zusammen.«
»Ein knisterndes Telefon ist besser als gar keins«, findet hingegen Jungunternehmer Mirko Albrecht. Nach einem Jahr bekommt sein Elektronikladen im August endlich Telefon — eines der 17.000 Apparate mit drahtloser Anschlußleitung, die bevorzugt an Geschäftskunden vergeben werden. »Ohne Telefon zu arbeiten kann für einen Selbständigen tödlich sein«, weiß Albrecht.
Doch längst nicht alle Ossis sind auf ein Telefon scharf. In der Prenzelberger Szene schält sich bereits eine Anti-Quasselstrippenfraktion heraus. »Ich habe meinen Apparat nach einem halben Jahr wieder abgemeldet«, sagt ABM-Kraft Andreas Weidemann. Nicht nur, daß er seinen ersten Anruf von einem Versicherungsvertreter bekam, das Telefon ließ ihn regelrecht vereinsamen: »Als ich es endlich hatte, bekam ich überhaupt keinen spontanen Besuch mehr.« Micha Schulze
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