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Auf der Fliegenden Taube zur Arbeit

Medaillen können täuschen: In China ist das Rad schlicht ein Mittel zur Fortbewegung  ■ Aus Peking Jürgen Viethen

Sie nennen ihr Land gerne „Königreich der Radfahrer“, doch ein Paradies ist China für selbige nicht. Radfahren ist für die meisten Menschen in Peking harter Alltag, der jeden Morgen und Abend zur Machtprobe mit den vielen Blechkarossen wird. Und die Autos gewinnen Tag für Tag an Terrain. Eine Million Menschen in der chinesischen Hauptstadt benutzen regelmäßig ihren Drahtesel.

Ab sechs Uhr morgens strömt alle Welt in die Stadt zu den Arbeitsplätzen und in die Fabriken. Schier endlose Fahrradschlangen ziehen sich auf den breiten Ausfallstraßen dahin, von großen Kreuzungen auseinandergerissen, um sich 50 Meter weiter wieder zu schließen. Diese Gruppe von Verkehrsteilnehmern stellte die Organisatoren der XI. Asienspiele auch vor die größten Probleme.

Pressesprecher Wu Zhonggyuan gab bereits im Vorfeld der Veranstaltung allerlei Restriktionen beim Autoverkehr bekannt, doch stellte er resignierend fest, man könne den Radfahrern das Radfahren nicht verbieten. Überall an den Kreuzungen überwachen nun Schüler und Studenten mit knallgelben Mützen und Leibchen, bewaffnet mit roter Fahne und Trillerpfeife, daß auch ein jeder Velozipist vor der roten Ampel stoppt und der motorisierte Asienspiel-Verkehr problemlos und pünktlich die Wettkampfstätten erreichen kann. Harte Strafen erwarten die Unverbesserlichen.

Um fünf Uhr nachmittags kann man jedoch eine in der Welt wohl einzigartige Erscheinung beobachten: Fahrradstaus. Wenn Abertausende Radler zur gleichen Zeit den Knotenpunkt in Xidan erreichen, heißt es auf den meterbreiten Radwegen in Zehnerreihen anstehen, um nach mehreren Ampelschaltungen endlich die große Ost-West-Tangente, den Chang'an-Boulevard, zu überqueren.

Radfahren ist in China kein Sport, kein Vergnügen. Es ist nichts als die Möglichkeit, sich von einem zum anderen Ort zu bewegen. Nach der „Befreiung“ 1949 und dem wirtschaftlichen Aufschwung unter der Regie der Kommunistischen Partei propagierte die Regierung die Verbreitung des Fahrrades. 20 Kilometer und mehr sind die Siedlungen von Fabriken und die Bauernhöfe von den Märkten entfernt. Als Alternative bliebe der Bus, doch der ist überfüllt, langsam, und außerdem möchten die meisten das Geld sparen.

Wohlklingende Namen wie „Fliegende Taube“, „Leichter Straßenstern“ oder schlicht „Glück“ sollen das Treten versüßen. Das Tempo der Masse liegt jedoch weit unter der Pace eines Hobbyläufers. Warum sich auf den 15 Kilometern in 30 Minuten abstrampeln, wenn man doch eine Stunde Zeit hat? Wer fragt da noch nach Radsportlern?

Und trotzdem macht sich China auf, Asiens Radsportnation Nummer 1 zu werden. Im Vierer-Straßenfahren erzielte das Team nach 100 Kilometern mit 2:04,55 Stunden eine respektable Zeit, und bei den Frauen blieb die erste Goldmedaille auch in China: mit 1:13,899 Minuten nach 1.000 Metern Einzelfahren auf der Bahn. Doch täuschen die Ergebnisse über die wirkliche Situation des chinesichen Radsports hinweg.

Bei den besten Veloathleten im Reich der Mitte handelt es sich um ein kleines Team, das die Möglichkeit hat, im Ausland an Rennen teilzunehmen. Radsport ist olympische Disziplin und steht auch auf der Liste der zu fördernden Sportarten. Ein Blick auf die Basis verrät, daß kaum eine Sportart unpopulärer ist als der Radsport. Die wenigen Radsportler auf Provinzebene können sich glücklich schätzen, wenn mehr als fünf Starts pro Jahr möglich sind. So werden auch die Radrennen der Asienspiele nur in kurzen Zusammenfassungen abends einem eher gelangweilten Publikum vorgeführt, das einzig eine weitere Medaille fürs Vaterland registriert.

Mit großem Unmut werden hier die Bestrebungen aufgenommen, bei Olympia in Zukunft auch die Tour- de-France-Pedaleure starten zu lassen. Die Chance, sich zumindest im Mittelfeld der Weltelite etablieren zu können, wären von heute auf morgen dahin. China — ein Land mit 400 Millionen Radfahrern, aber weder ein Greg Lemond noch ein Guiseppe Saroni in Sicht.

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