Auf den Anrufbeantworter gesprochen: „Geh doch mal raaaahhhhn!“
Unsere Autorin findet drei kleine Tonbandkassetten in einer Kiste. Und taucht wieder in ihr Studentenleben im Kiel der 90er ein. Ein Abhörprotokoll.
Neulich habe ich mir ein Diktiergerät auf Ebay gekauft. Ich hatte nämlich in einer Kiste drei Mikrokassetten gefunden, die Sorte, die man früher im Anrufbeantworter hatte. Große Hoffnung: Noch mal die Stimmen meiner Eltern, vor allem meiner Mutter zu hören, die Stimmen meiner Großeltern. Diese Wünsche sind in Erfüllung gegangen.
Die Bänder stammen so von 1994/1995, ich war Studentin in Kiel, war vom Studentenwohnheim in ein Zimmer mit eigenem Telefon gezogen, daher AB. Diese Kassetten sind eine richtige Soap des Studentenlebens, ohne Handy … Willkommen in den wilden 90ern!
Lars und Matthias aus meiner alten WG rufen an, sind reichlich angeschickert und wollen später ins Max. Sie lachen viel, lästern über Heiko, unseren 4. Mitbewohner, irgendwie sollen wir Party machen und Heiko ärgern, um Heikos neue Mitbewohner zu unterstützen. Bierlogik.
Claudia ruft wirklich viel an, sie studiert das Gleiche wie ich, ist viel erkältet und braucht kurz vor der Zwischenprüfung irre viele Zahlen aus meinem dicken Vorlesungsverzeichnis. Simone ist die Dritte im Bunde, die auch gerne mal mitten in der Nacht anruft, weil sie über Kai reden will. Auch eher betrunken ruft sie nach einer Party an, ein Rucksack ist übrig geblieben. Das erzählt sie ungefähr fünfmal.
Torsten ruft an und möchte meinen Videorekorder abholen und zu Kai bringen. Außerdem erinnert er an das Massenbesäufnis bei Andy, davor ist Bowlen. Irgendwo am Westring. Sandra ruft an, wie so viele ruft sie erst mal: „Bist du daaahaaa? Geh doch mal raaaahhhhn!“, und nennt den neuesten Folgentitel von „Wer ist hier der Boss?“. Später ruft sie noch mal an und will ins Kino, wahrscheinlich der neueste Bruce-Willis-Film!
Sandra ruft noch mal an: Sie musste an mich denken, weil sie die „Fackeln im Sturm“-Musik gehört hat. Später noch mal, sie will mir ihre Examensarbeit zum Lesen vorbeibringen.
Mein Opa Herbert aus Kiel-Schilksee ruft an, er ist schon seit 17 Jahren tot, war damals um die 70 und brüllt irgendwie auf den Anrufbeantworter. Mein Vater († 2017) ruft an und teilt mit, er sei der Anrufbeantworter-Tester von der Deutschen Post. Meine Mutter († 2018) ruft oft an, Geschichten aus dem Alltag, ständig Vorwürfe, ich würde noch schlafen. Träne im Knopfloch: Sie nennt mich bei meinem einen Spitznamen, den ich seit 2018 nie wieder gehört habe.
Ein Anruf: sehr, sehr lange einfach nur eine klassische Opernarie. Im Hintergrund Stimmen. Entweder wollte mich jemand veräppeln oder mein Großvater hat einen Fehler mit dem Telefon gemacht, er hörte gerne Arien.
Oh je, die Arie durchgehört: Torsten, Kai und Simone haben sie mir aus „Gründen“ vorgespielt und reden jetzt schlimmstes Italienisch. Diese Personen sind heute Schulleitungen … haha. Das Ganze spielt sich nach einer Party nachts ab … oh je. Nächster Anruf, ich gehe wieder nicht ran, Simone spielt jetzt Gitarre. Kai: „Guten Tag, mitten in der Nacht, Sie wollten geweckt werden.“ Torsten spricht wieder Italienisch. Simone geht ernsthaft mit dem Telefon aufs Klo und telefoniert weiter meinen Anrufbeantworter voll. Ich habe aber einen Eindruck, warum ich mich an nichts mehr davon erinnere … Sie legen endlich auf.
Nächster Anruf morgens: „Haaaalllooo, bist du schon wach? Geh mal ans Telefooooon!“
Kassette gedreht: Alexandra ruft an. Beste Freundin, dann gestritten, nun ruft sie an. Nett. Sandra ruft viermal hintereinander an. Ich habe ein Eis gewonnen. Warum auch immer! Kirsten ruft an und sagt, wann der Nachtbus fährt. Simone, Claudia und ich sind ein Lern- und Übersetzungsteam und versuchen Termine zu finden. Was für ein Gewusel.
Susanne ruft zweimal an. Susanne hat auch mal mit mir studiert, dann aufgehört, aber wir haben immer noch Kontakt. Nun ist Torstens Rucksack zu klein, erzählt sie, was auch immer das bedeuten soll.
Mehrere Anrufe meiner Nachhilfeschülerin Katharina, die in einer Villa in Kiel-Wik wohnte. Meist sagt sie Termine ab. Susanne ruft wieder an, ich bin bei ihrer Freundin Bettina zum Schottland-Diaabend eingeladen. Ob ich da wohl war? Opa Herbert: „Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass du noch lebst. Dein Opa.“
Ah, es geht auf die Zwischenprüfungen zu … Mehr Lernverabredungen. Meine Mutter checkt und meckert zwischendrin, warum ich mich nicht melde.
Die Arbeit in Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan kann lebensgefährlich sein. Der Chef des deutschen Billig-Textilunternehmens KiK verspricht, das zu ändern. Unser Reporter hat ihn begleitet – wie die Reise lief, lesen Sie in der taz am wochenende vom 18./19. Juni. Außerdem: Was der Klimawandel mit den Binnengewässern macht. Und: Ein Hausbesuch bei einer Töpferin in 4. Generation. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Wieder ein Daueranruf von Simone, sie gratuliert mir zur Zwischenprüfung. Yeah. Sie nennt 1001-mal meinen Vornamen und möchte darüber reden, warum ich zu Kai manchmal so abweisend bin. Tja. Simone ruft allen Ernstes noch dreimal in der Nacht an! Und möchte wissen, ob ich angekommen bin. Wie oft wir wohl früher durch Kiel getorkelt sind?
Besagter Kai ruft an und sagt, ich sei eben noch dagewesen und soll jetzt mal zurückrufen! Direkt in der Uni, er war Hiwi. Viele, viele Minuten Gerausche, sehr seltsam, dann kommt mein Vater und gratuliert mir zur Zwischenprüfung. Er ruft noch mal an, im Hintergrund seine alte Uhr und die sanfte Erinnerung, dass meine Großmutter in Berlin auch heute Geburtstag hat. Dann ist da gerade der 2. November.
Schulfreundinnen von früher rufen auch an: Andrea wünscht im Februar ein frohes neues Jahr, Kristina möchte, dass ich zu Elkes Geburtstag komme, und sagt, dass sie mich auf RSH (Radio Schleswig-Holstein) gehört hat. WAS?
Mama ruft an und fragt, ob ich wieder nüchtern bin. Es geht wohl immer noch um die Zwischenprüfung. Ach je.
Okay, wie witzig: Mama ruft mal wieder an. Sie hat im Fernsehen „Herzblatt“ mit Hauke (einem Schulkameraden) gesehen. Zwischendurch auch mal viele Tut-tut-tut-Anrufe. Sandra ruft an mit: „Hallo, hier ist die Blue-Moon-Detektei!“ Für den Spruch braucht man wirklich 90er-Insiderwissen! Ha!
Viel Gespule, dann geht’s weiter, Annika aus meinem AStA-Kurs ruft an und möchte noch ein paar Klausuren durchgehen. Und Stefan ruft an und will eine Fete machen. Stefan ist heute Professor für klassische Philologie. Mama hat sich einen Mazda 323 mit 60 PS gekauft. Baujahr 86! 5.500 Mark. War eine geile Kiste! „So, jetzt haben wir wieder ein Auto, jetzt fängt das Leben wieder an!“ Danach wieder mehrere Trunkenheitsanrufe von Claudia und Simone, ohohoho … Sie wollen mir Ratschläge für meine Beziehung geben. WAS?
Oh nein, Simone spielt mir wieder Arien vor, weil ich nicht rangehe. Susanne schimpft, weil mein Anrufbeantworter nach einmal Klingeln angeht. „Immer diese verschwendeten Einheiten!“ Groß: Andy, der Bär mit der sonoren Stimme, möchte, dass ich ihm morgen einen Schein für die Pädagogikveranstaltung ausfülle, er müsse morgen arbeiten. (So machte man das damals …)
Die letzten beiden Sprüche sind tatsächlich von mir selbst, wohl Testanrufe, ob der AB geht. „Und tschüs!“ Wie schön, dass ich so oft nicht rangegangen bin!
Die Autorin lebt inzwischen wieder in Flensburg. Die Geschichte ihrer Anrufbeantworter-Kassetten hat sie zuerst bei Twitter veröffentlicht. Die Namen vieler Freundinnen und Freunde im Text sind geändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück