Auf Kirchentour in Westbrandenburg: Früher so berühmt wie Rom
Als Pilgerziel spielte Bad Wilsnack in einer Liga mit dem Vatikan. Lang her. Die mittelalterliche Kirchenpracht zu erhalten, ist eine Herausforderung.
Das brandenburgische Bad Wilsnack, auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg gelegen, hat 2.500 Einwohner, einen Bahnanschluss, ein Thermalbad mit Natursole, ein Gradierwerk und eine der geschichtsträchtigsten Kirchen Deutschlands. Die riesige mittelalterliche Kirche ist für die Gemeinde von 500 Mitgliedern „eigentlich nicht zu stemmen“, sagt Pfarrerin Anna Trapp.
Das Bauwerk stammt aus einer Zeit, als man Bad Wilsnack überall in Europa kannte: Die Legende erzählt, dass nach einem Feuer 1383, das den Ort und die Kirche zerstörte, im Kirchenaltar aufbewahrte geweihte Hostien nicht mit verbrannten. Sie nahmen vielmehr eine blutrote Färbung an. Sie galten deswegen als Wunder und zogen Menschen aus halb Europa an.
Als Pilgerziel spielte Wilsnack in einer Liga mit Rom und dem spanischen Santiago de Compostela. Menschen aus Skandinavien, dem Baltikum, den deutschen Ländern, Flandern, Böhmen und Ungarn pilgerten nach Wilsnack. Durch das Betrachten der Hostien versprachen sie sich Heilung von Krankheiten, Straferlass und Vergebung ihrer Sünden. Übernachtungstourismus und Ablasshandel spülten viel Geld in die Kirchenkassen und ermöglichten den Bau der riesigen Kirche.
Überall riesige Sakral- und Profanbauten
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Mit der Reformation ging es mit den Pilgern und damit auch dem Geldfluss langsam zurück. Als Joachim Ellefeld, Wilsnacks erster evangelischer Pfarrer, im Jahr 1552 die Hostien verbrannte, war es damit ganz vorbei. Doch als Erbschaft dieser Zeit stehen überall in der Prignitz riesige Sakral- und Profanbauten, in denen die Pilger im Mittelalter auf dem Weg von und nach Wilsnack Unterkunft fanden und Geld ließen.
Heute ist die Prignitz im Nordwesten Brandenburgs ein dünn besiedelter Landstrich mit wenigen Kirchgängern. Doch die Kirchgemeinden müssen sich um die Sanierung der Gebäude kümmern. Ja, es gibt staatliche Gelder, sagt die Wilsnacker Pfarrerin Anna Trapp. Aber ob die auch abgerufen werden, hinge davon ab, ob sich in einem ehrenamtlich tätigen Gemeindekirchenrat Menschen finden, die sich über Jahre mit der Sanierung des Baus beschäftigen wollen: Fördergelder beantragen, Firmen beauftragen, Arbeiten koordinieren oder die empfindliche Orgel immer dann hinter einem Holzbau verstecken, wenn der Baustaub sie zu beschädigen droht. „Es kann nicht richtig sein“, sagt Trapp, „dass die Sanierung davon abhängt, ob es in den Kirchengemeinden zufällig solche Engagierte gibt.“
Für die Wunderblutkirche haben das ein Unternehmer, ein Förster und ein Apotheker auf sich genommen. Keine Baufachleute. Aber, wie die Pfarrerin sagt, „Männer mit Herzblut“. Von 2016 bis 2022 flossen Fördermittel aus einem Bundesprogramm für Denkmäler von nationaler Bedeutung, die vom Land und der Landeskirche kofinanziert werden mussten. „Die Schäden am Gebäude waren aber so groß, dass die Mittel, die für die Innen- und Außensanierung geplant waren, nur für außen reichten“, so Anna Trapp.
Als Besucher hört man davon mehr als dass man es sieht: Die einst von Absturz bedrohten Glocken läuten wieder. Das Dach wurde völlig erneuert. Ein Seitenfenster mit niederländischer Glaskunst aus dem Mittelalter drohte in sich zusammenzufallen. Es musste darum von Grund auf saniert werden, was viel Geld verschlang.
„Daumenabdruck unserer Generation“
Der Gemeinde gelang es, weitere Fördermittel für die Sanierung der derzeit nicht nutzbaren Sakristei sowie für die Gestaltung von Fenstern mit moderner Glasmalerei zu organisieren. Die Glasmalerei der Berliner Künstlerin Leiko Ikemura erinnert an die mittelalterliche Geschichte mit Brand und Hostien in der Wunderblutkirche. Am Pfingstmontag, dem 29. Mai 2023, werden sie um 15 Uhr eingeweiht, „ein Daumenabdruck unserer Generation an einer historischen Kirche, was sie weit über unsere Zeit hinaus prägen wird“, freut sich Anna Trapp.
Andernorts in der Prignitz verfallen dagegen historisch wertvolle Sakralbauten, wie etwa die Kirche in Mesendorf oder die in Groß Werzin. Unter diesem Fachwerkbau aus dem 18. Jahrhundert befindet sich eine historische Gruftanlage. Die Sanierung würde die 13 Gemeindemitglieder überfordern, sagt die Pfarrerin. Somit wird nichts zum Erhalt der Gräber getan.
Die 207 Kirchen im Kirchenkreis Prignitz seien „viel mehr, als wir als Evangelische Kirche brauchen“, sagt Superintendentin Eva-Maria Menard. Und anders als im weit entfernten Berlin, wo Menard einst selbst Pfarrerin war, könne die Kirche hier nicht einfach ihre nicht mehr benötigten Gebäude an andere Gemeinden wie die orthodoxe oder an Konzertveranstalter abgeben. „Aber sie werden gebraucht für die Ästhetik der Dörfer, als Landmarken oder als Dorfgemeinschaftshaus“, sagt Menard. Und die Evangelische Kirche ist Hausherrin, sie haftet, falls jemandem etwa ein Dachziegel auf den Kopf fällt. Da sind die mittelalterlichen Gotteshäuser für die Institution Kirche irgendetwas zwischen Last und Segen.
Auch wenn die Erhaltung nicht überall gelingt, die Superintendentin beschreibt den Erhaltungszustand der Kirchen in der Prignitz „so gut wie seit Jahrhunderten nicht. Da wurde nach der Wende enorm viel geleistet.“
Ein Unterschlupf für Fahrradtouristen
Doch für wen eigentlich werden die vielen Kirchgebäude erhalten? Für die immer weniger werdenden Dorfbewohner? Für die noch geringeren Kirchgänger? Für Touristen? „Die Kirchen müssen mit Leben gefüllt werden“, sagt die Superintendentin. Komme die Initiative zur Sanierung allein von außen, bringe das nichts.
Viele Kirchen öffnen sich. Die winzige Kirche in Hinzdorf beispielsweise, direkt an der Elbe gelegen, ist außerhalb der Gottesdienstzeiten für Radler auf dem Elberadweg geöffnet, die hier bei schlechtem Wetter Unterschlupf finden. Und die riesige Kirche in Bad Wilsnack beherbergt einen Weltladen, war auch schon Wahllokal, temporäres Impfzentrum sowie Ort für Konzerte und politische Debatten. Im Perleberger Ortsteil Quitzow teilt sich die evangelische Gemeinde ihr Gotteshaus mit einer rumänisch-orthodoxen Gemeinde.
Nur 21 Kilometer von Bad Wilsnack entfernt, jedoch bereits im Bundesland Sachsen-Anhalt, steht der seit 1996 prächtig restaurierte Dom zu Havelberg. Auch er profitierte im Mittelalter vom Pilgertourismus. Und hier hat die Kulturstiftung Sachsen-Anhalt der Kirche die Bürde für den Erhalt des Gebäudes abgenommen. Der Dom gehört wie mehrere weitere bedeutsame Sakralbauten in Sachsen-Anhalt der Stiftung, die die Bauarbeiten koordinierte. Die Kirchgemeinde hat lediglich einen Nutzungsvertrag und wird in Entscheidungen mit einbezogen.
Proteste der Gemeinde gegen die Enteignung gab es nicht, im Gegenteil: Auch andere Kirchgemeinden würden sich so eine Lösung wünschen, sagt Stiftungssprecherin Manuela Werner.
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