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Auch Hinterwäldler haben den Blues

Bedürfnis nach Überschaubarkeit: Der Erfolg des Films „O Brother, Where Art Thou?“ hat dem Genre Bluegrass ein unerwartetes Revival beschert

von CHRISTOPH WAGNER

Selbst Bob Dylan zog bei der Grammy-Verleihung den Hut und bedankte sich bei den Coen Brüdern, hatte ihr Kinoerfolg „O Brother, Where Art Thou?“ doch die alte Bluegrass-Musik wieder ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit zurückgebracht.

Der Soundtrack zum Film, der neben alten Haudegen wie Ralph Stanley auch junge Vertreter des Stils wie Gillian Welch und Alison Krauss präsentiert, räumte gleich serienweise Preise ab und hat sich inzwischen weltweit mehr als 4 Millionen Mal verkauft. Damit war Bluegrass, lange Zeit als altbacken verpönt, auf einmal voll auf der Höhe der Zeit. Und dieser Erfolg ließ die Nashville-Industrie, die seit Jahre den Ausverkauf der Countrymusik an Pop und Easy Listening betrieben hatte, blamiert dastehen.

Wachs und Schellack

Dabei war die amerikanische Schallplattenindustrie einst schon, Anfang der 1920er-Jahre, eher durch Zufall auf die Hillbilly Music gestoßen. Aus eigenem Antrieb waren 1922 der Texas-Fiddler Eck Robertson und sein Kollege Henry Gilliland nach New York gereist, um das Plattenlabel Victor mit Erfolg zu einer Aufnahme zu überreden. Ein Jahr später entdeckte der Aufnahmeleiter und Talentsucher des Plattenlabels Okey, Ralph Peer, auf einen recording trip nach Atlanta auf der Suche nach schwarzem Blues den weißen Geigenspieler Fiddlin’ John Carson und nahm zwei Titel mit ihm auf. Diese Einspielungen bildeten den Startschuss für die erste Schallplattenkarriere der Hillbilly Music. Der Erfolg von Fiddling John Carson offenbarte das Verkaufspotential dieser „Old Time Music“ und veranlasste weitere Plattenfirmen, auf den Zug aufzuspringen. Jetzt wurden Aufnahmeteams in den Süden geschickt, die sich für ein oder zwei Wochen im Hotel einer größeren Stadt einmieteten. Eine Anzeige in der Lokalzeitung forderte Musiker auf, sich an einem bestimmten Tag zum Vorspiel einzufinden, wo sich dann Banjospieler, Fiddler, Sänger und Stringbands im Foyer drängelten; manche kamen von weiter her. Nur die besten durften in den Aufnahmetrichter singen. Die bespielten Wachsplatten wurden eisgekühlt in die Firmenzentralen nach New York geschickt. Wenn die Schellackplatten aus dem Presswerk kamen, gingen sie an ihren Ausgangsort nach Tennessee, Virginia, North und South Carolina zurück, wo sie in Möbelgeschäften, Gemischtwarenläden und Warenhäusern verkauft wurden.

Die Musiker des Hillbilly-Genres stammten aus der unteren sozialen Schicht der ländlichen Bevölkerung. Es waren einfache Leute, die vielfach keine formale Schulbildung besaßen und bei den Städtern der Ostküste als Hinterwäldler galten.

Musik war oft das einzige Ausdrucksmittel für sie. „Neunzig Prozent der frühen Hillbilly-Musiker kamen aus dem Süden. Es waren Fabrik- und Grubenarbeiter, Eisenbahner und Schreiner, die Musik nur in der Freizeit machten“, beschreibt Professor Bill Malone aus Madison, Wisconsin, und Autor des Standardwerks „Country Music USA“, die soziale Lage der Musikanten. „Profis waren selten, obwohl einige versuchten, ihren Lebensunterhalt mit Auftritten zu verdienen, was nicht leicht war. Der Banjospieler Uncle Dave Macon trat in Varieté-Theatern auf, und Charlie Poole spielte überall, wo man ihn ließ. Normalerweise sangen die Leute in der Kirche und daheim. Öffentliche Veranstaltungen, wo Musik benötigt wurde, gab es kaum – vielleicht einmal eine Verkaufsausstellung oder Zeltshow.“

Im Leben der einfachen Leute fungierte Musik als wichtiges Kommunikationsmittel, das half, sich über die kleinen Probleme des Alltags zu verständigen und auch auf die großen Fragen des Lebens eine Antwort zu finden. Darüber hinaus zählte Musik zu den seltenen Abwechslungen in einem Dasein voller Arbeit und Sorgen – was sie heiß begehrt machte. Trat irgendwo an einer Straßenecke ein Sänger auf, bildeten sich sofort riesige Menschentrauben.

Die Zwanzigerjahre markierten in den USA den Beginn einer neuen Ära. Das Zeitalter des Rundfunks begann. Das neue Massenmedium verbreitete sich in Windeseile. Überall schossen lokale Radiostationen aus dem Boden und schlossen selbst entlegene Landstriche ans übrige Amerika an. In den ersten drei Jahren nahmen mehr als 500 kommerzielle Radiostationen den Betrieb auf, und nach einem Jahrzehnt besaßen mehr als 12 Millionen Haushalte in den USA ein eigenes Rundfunkgerät. Für die Hillbilly-Musiker wurde das Radio zum eigentlichen Brötchengeber. Viele fanden Arbeit und Lohn bei einem kommerziellen Sender, wobei regelmäßige Rundfunkauftritte den Bekanntheitsgrad erhöhten. Jetzt konnte man in einem größeren Umkreis Konzerte geben.

Morgenshows im Radio

Beliebte Sendungen avancierten zum Höhepunkt der Woche, zu dem sich die ganz Nachbarschaft vor dem Radioempfänger einfand. Die „Grand Ole Opry“ aus Nashville und die „National Barn Dance“ des Senders WLS aus Chicago gehörten zu den „Favourites“: Sie waren als „Live“-Programme konzipiert, wo Musiker und Gruppen nacheinander auftraten, durchsetzt mit Komikeinlagen und den Ansagen und Werbesprüchen des Zeremonienmeister.

Das Berufsleben eines professionellen Hillbilly-Musikers war eine strapaziöse Angelegenheit, ein Rund-um-die-Uhr-Job – sieben Tage die Woche – mit gerademal zwei Wochen Urlaub über Weihnachten. Der Gitarrist und Sänger Rusty Gill, der heute in Chicago City lebt, gehörte ab Ende der 30er-Jahre zum Hausensemble der Radiostation WLS in Chicago. „Jede Woche hatten wir ein hektisches Pensum zu absolvieren“, erinnert sich der inzwischen 85-Jährige. „Täglich von 5 bis 6 Uhr morgens eine Sendung, danach noch eine eigene Show, zwischen 15 und 30 Minuten lang. Am Nachmittag oft öffentliche Auftritte, im Sommer auf Messen, sonst in Theatern – das zehrte an den Kräften. Darüber hinaus gab man oft sonntags noch Konzerte und musste dann zurückhasten, um montags wieder pünktlich um 5 Uhr für die tägliche Morgensendung auf der Matte zu stehen.“

Rufe aus der Prärie

Im Bemühen, sich in Liedern ernsthaft mit essentiellen Fragen der Zeit und der menschlichen Existenz auseinander zu setzen, liegt eines der Hauptmerkmale der frühen Hillbilly-Musik. „Die Lieder stammten aus verschiedenen Quellen“, erläutert Prof. Malone. „Sie waren religiös oder weltlich, manche kamen aus dem Blues, andere waren Schlager aus der Großstadt. Ebenso vielfältig waren die Themen: der Tod, die Liebe, das Überleben. Es waren Lieder, die sich die Leute zu Herzen nahmen, weil sie immer schon Teil ihres Lebens waren.“ Manche Songs handelten von paradiesischen Träumen oder von Fluchtfantasien. Wie wunderbar wäre es, alles hinter sich zu lassen und auf einem Güterzug abzuhauen? Andere Lieder saugten Honig aus der Vorstellung, ein Cowboy draußen in der Prärie zu sein oder ein Gesetzloser. „Wir identifizieren uns gerne mit solchen Typen, weil das etwas Würze in unser ödes Dasein bringt“, meint Bill Malone. In der Sehnsucht nach einer simpleren Existenz sieht der Doyen der amerikanischen Countrymusik-Geschichtsschreibung dann auch eine Haupttriebfeder des aktuellen Bluegrass-Revivals: „Unsere hyperkomplexe Gesellschaft erzeugt Bedürfnisse nach Einfachheit und Überschaubarkeit. Die Hillbilly-Musik scheint diesen Hunger zu befriedigen. Man kann das einfache Leben vielleicht nicht leben. Aber man kann es in zwei, drei Minuten erfahren, indem man sich einen Bluegrass-Song anhört.“

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