■ Auch Biedenkopf will eine Regionalisierung der Sozialsysteme: Deutschland – eine Wirtschaftsregion
Jahrelang verteidigte die Union die Nation gegen ihre europäische Auflösung und malte mit Hingabe am Leitbild eines Europa der Vaterländer. Nun muß sie feststellen, daß die Vaterlandsverräter in den eigenen Reihen sitzen. Denn die beiden Ministerpräsidenten Stoiber und Biedenkopf wollen perspektivisch offenbar ein Europa der Regionen. Genaugenommen ist es ein Europa der Wirtschaftsräume, das die Standortdebatte ihrer starren nationalstaatlichen Orientierung entkleidet und solchermaßen neue Rationalisierungspotentiale entfesselt.
Die Initiative der beiden Freistaaten-Fürsten ist in einem des Separatismus bislang unverdächtigen Land wie dem unseren neu und wirkt spektakulär. Schaut man jedoch nach Norditalien, nach Katalanien und in andere Regionen Europas, so erkennt man, daß dieser Besitzstandschauvinismus Vorläufer und Parallelen hat. Er gewinnt an Bedeutung in dem Maße, wie die nationale Politik diesen Besitzstand nicht mehr halten kann und der Integrationsprozeß Europas verspricht, ihn noch weiter zu mindern. Setzt dieser Regionalismus sich durch, wird eine verstärkte binnenstaatliche Migration ebenso die Folge sein wie ein alle strukturpolitischen wie ökologischen Gesichtspunkte außer acht lassender Wettbewerb um Industrieansiedlungen. Den werden allerdings nach den Gesetzen der betriebswirtschaftlichen Logik nur einige Länder für sich entscheiden. Auch Sachsen kann nicht sicher sein dazuzugehören.
Gewiß läßt sich gegen diese Tendenz die Verfassung in Stellung bringen, denn Deutschland wäre dann kein sozialer Bundesstaat mehr, sondern allenfalls ein Bund mehr oder minder sozialer Länder. Doch läßt sich mit dem Verweis auf die Verfassung die Sache keineswegs erledigen. Sowohl auf das in ihr liegende Gerechtigkeitsproblem wie auf das Modernisierungsdefizit ist eine politische Antwort erforderlich.
Das Duo Stoiber/Biedenkopf hat einen Stein ins Wasser geworfen, der den Verfassungsrahmen sprengte. Seinerzeit forderten sie eine Neuordnung des föderalen Rundfunksystems. Auch damals erklang landauf, landab das empörende Geraune. Doch siehe da, als diese abebbte, als die Wellen sich legten, war die deutsche Rundfunklandschaft nicht mehr dieselbe wie zuvor. Die beiden hatten, damals wie heute, die Zeichen der Zeit früh erkannt. Es kommt jedoch auch darauf an, sie richtig zu deuten. Und da sind die eigenen Interessen manchmal schlechte Ratgeber. Dieter Rulff
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