Atomenergie in der Schweiz: Die Eidgenossen steigen langsam aus
Der Schweizer Bundesrat ist sich einig: Bis 2034 sollen alle fünf helvetischen AKWs vom Netz gehen. Eine erstaunliche Kehrtwende in der Energiepoltik. Jetzt müssen Parlament und Volk abstimmen.
BERN dpa/rtr | Die Schweiz soll langfristig aus der Atomenergie aussteigen. Das sieht ein Beschluss der Regierung, des Bundesrates, vom Mittwoch vor. Die bestehenden fünf Atomkraftwerke sollen am Ende ihrer Betriebsdauer nicht ersetzt werden. Die Regierung geht dabei von einer Laufzeit von 50 Jahren aus. Das erste Atomkraftwerk würde demnach 2019 vom Netz gehen, das letzte 2034. Über die Schweizer Atompolitik entscheidet das Parlament sowie das Volk bei Abstimmungen.
Laut NZZ-Online sprach die für Energie zuständige Bundesrätin Doris Leuthard von einem "historischen Tag" für die Schweiz. "Eine saubere, sichere, autonome und wirtschaftliche Energieversorgung ist weiterhin das Ziel", erklärte sie auf einer Pressekonferenz. Nach dem atomaren Desaster von Fukushima müsse jedoch das Restrisiko neu beurteilt werden, gerade für ein dicht bevölkertes Land wie die Schweiz, so Leuthard.
Nach Meinung des Bundesrates sei der Atomausstieg "technisch möglich und wirtschaftlich verkraftbar". Er rechnet laut NZZ Online mit volkswirtschaftlichen Kosten in Höhe von 0,4 bis 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Zudem lässt er prüfen, ob er für den auf 2 bis 4 Milliarden Franken veranschlagten Umbau der Stromversorgung eine Förderabgabe, einen so genannten Stromrappen einführen will. Dazu soll es im Herbst konkrete Vorschläge geben.
Leuthard als Zünglein an der Waage
Der siebenköpfige Bundesrat - der sich paritätisch aus den Vertretern aller großen Parteien zusammensetzt - ist in der Atomfrage gespalten: Offen für ein Ende der Atomkraft hatten sich bislang nur die Sozialdemokratinnen Simonetta Sommaruga und Micheline Calmy-Rey sowie Eveline Widmer-Schlumpf von der bürgerlichen BDP ausgesprochen.
Dagegen gelten ihre männlichen Kollegen von der rechtspopulistischen SVP und der wirtschaftsfreundlichen FDP eher als Atomkraftbefürworter. Ihnen wäre ein zehnjähriges Atommoratorium am liebsten gewesen.
Damit dürfte die Stimme von Energieministerin Leuthard,. die der christdemokratischen CVP angehört, das Zünglein an der Waage gebildet haben. Leuthard, die selbst aus dem an Deutschland angrenzenden Kanton Aargau stammt, in dem sich drei der fünf Schweizer Atomkraftwerke befinden, hatte sich bislang bedeckt gehalten. Die Medien sahen sie aber vor der Bundesratsentscheidung in Richtung eines "geregelten Atomausstiegs" tendieren.
Vier AKWs nahe der deutschen Grenze
Von den fünf Schweizer Atomkraftwerken an vier Standorten liegen drei im Grenzbereich zu Süddeutschland. Für eine vorzeitige Stilllegung sieht die Regierung derzeit trotz des schweren Atomunfalls in Japan keinen Anlass. Die Schweiz hatte ihre Atomkraftwerke gerade erst einem sogenannten Stressdienst unterworfen. Danach könnten alle vorerst am Netz bleiben, hieß es danach - trotz Schwachstellen bei der Lagerung von Brennelementen. Dabei gelten die Schweizer Atomkraftwerke im internationalen Vergleich größtenteils schon heute als veraltet. Seit 1969 ist Beznau-1, das erste AKW der Schweiz, am Netz. Der störanfällige Meiler ist damit der älteste noch im Betrieb befindliche Druckwasserreaktor der Welt.
Mit einem schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie steht nach Ansicht des Bundesrates die erforderliche Zeit für die Umsetzung einer neuen Energiepolitik und den Umbau des Energiesystems zur Verfügung. Derzeit werden etwa 60 Prozent des Stroms in der Schweiz durch Wasserkraft und wenige andere Energieträger sowie 40 Prozent durch Atom erzeugt.
Größte Anti-AKW-Demo seit Tschernobyl
Doch auch gegen den langsamen Atomausstieg könnte sich starker Widerstand regen. Geht es nach den bisherigen Plänen der SP, muss das letzte AKW spätestens 2024 abgeschaltet werden. Die Schweizer Grünen kämpfen für einen Atomausstieg bis ins Jahr 2029 und sind notfalls bereit, eine Volksinitiative zu ergreifen. Als Richtwert gilt der Öko-Partei eine Gesamtlaufzeit für AKW von 40 Jahren.
Schlechte Karten dürften die Grünen bei einer Volksbefragung für einen raschen Ausstieg nicht haben, denn seit Fukushima hat auch in der bislang atomfreundlichen Schweiz die Stimmung gedreht. Am Sonntag demonstrierten im Kanton Aargau rund 20.000 Menschen gegen Atomkraft, die größte Anti-AKW-Kundgebung in der Schweiz seit Tschernobyl. Die Veranstalter hatten im Vorfeld nur mit 10.000 Teilnehmern gerechnet.
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