Als die Wolke kam

Pershing-II-Raketen und Tschernobyl bescherten den 80ern ein dystopisches Lebensgefühl. Mit den Büchern von Gudrun Pausewang zog die Apokalypse ins Kinderzimmer

Der Protest gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf im Jahr 1986 war schichten- und generationsübergreifend Foto: Fo­to: Ann-Christine Jansson

Von Martina Mescher

Um die Spielplätze flatterte Absperrband, aber draußen wollte ohnehin niemand mehr sein. Durch die Tagesschau schwirrten Bilder von Menschen mit Geigerzählern und Begriffe wie Becquerel und Millisievert. Dem Wetterbericht wurde vermutlich selten mit so dermaßen großer Anspannung gelauscht wie in den Tagen nach Tschernobyl – Angst vor Wind, Angst vor Regen und die Panik vor der radioaktiven Wolke.

„Ohohoho Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill. He, he, stoppt die AKWs“, sang Wolf Maahn. Im Radio spielten sie den Song nach dem Super-GAU rauf und runter. In einer Strophe geht es um all die Kinder, die nachts weinen, wegen der Furcht, „jetzt verstrahlt“ zu sein. Was Strahlenkrankheit bedeutet, das hatten sie durch die drastischen Schilderungen des körperlichen Zerfalls und Sterbens der kindlichen Romanfiguren in „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (1983) von Gudrun Pausewang gelernt.

Dieser Jugendroman und der ebenfalls von ihr stammende „Die Wolke“ (1987) haben sich ins Gedächtnis ganzer Generationen von Schü­le­r:in­nen eingeschrieben. Sätze wie „Morgen wirst du sie auch sehen können, die Gehäuteten und Haarlosen, sie werden ganz Schewenborn füllen“ vergisst man nicht. Pausewangs Bücher brachten die Apokalypse ins Kinderzimmer. Erst einmal aber brachte Pausewang die Atomkatastrophe literarisch nach Westdeutschland, genauer gesagt, nach Hessen. Schewenborn ist der Name einer fiktiven Kleinstadt in der Nähe von Fulda, wo eine Atombombe explodiert. Danach sieht Hessen aus wie Hiroshima 1945.

Bei Pausewangs „Die Wolke“, die im Jahr nach Tschernobyl erschien, ereignet sich der fiktive Reaktorunfall im AKW Grafenrheinfeld. Ausgerechnet in Bayern, dem Land, das Franz Josef Strauß regiert, der Apologet der Atomenergie. Gut 100 Kilometer entfernt, im hessischen Schlitz, beginnt die Fluchtodyssee der 14-jährigen Janna-Berta und ihres kleinen Bruders Uli. Denn ihre Eltern sind auf einem Kurztrip nach Schweinfurt, ganz in der Nähe des Reaktors. Kinder, die sich allein durchschlagen müssen, das ist ein wiederkehrendes Motiv bei Pausewang.

In der Musik haben Atomwaffen und die Kernkraft in den 1980ern Dutzende von Bands zu mehr oder minder düsteren Songs inspiriert – etwa Kate Bush, „Breathing“, 1980; OMD, „Elona Gay“, 1980; The Specials, „Man at C&A“, 1980; Geier Sturzflug, „Besuchen Sie Europa, so lange es noch steht“, 1983; Prince, „1999“, 1985; die Einstürzenden Neubauten, „Feurio“, 1989.

In Filmen spielte die Furcht vor allem Nuklearen ein paar Jahre vor und nach Tschernobyl oft eine Hauptrolle: Etwa in „The Day After“ („Am Tag danach“) des US-TV-Regisseurs Nicolas Meyer. Was, wenn eine der Supermächte eine Atombombe zünden würde? Das erschreckend realistisch wirkende Szenario von 1983 verstörte auch das deutsche Publikum. Der britische Zeichentrickstreifen „When the wind blows“ („Wenn der Wind weht“) war 1986 ebenfalls ein Erfolg in hiesigen Kinos. Er erzählt, wie ein Alte-Leute-Pärchen die Folgen eines Nuklearangriffs zu überleben versucht. Die Story beruht auf einem Comic von Raymond Briggs, die Filmmusik stammt von David Bowie.

Im Fernsehen brachte der Komiker Loriot die Atomkraft schon 1978 in deutsche Wohnzimmer: „Weihnachten bei Hoppenstedts“ heißt ein 25-minütiger Sketch, in dem ein Kind, der kleine Dicki Hoppenstedt, ein Modellbauset zu einem Kernkraftwerk geschenkt bekommt. Kaum zusammengebastelt, explodiert das Ding. 1977 hatte Loriot im Sketch „Der sprechende Hund“ einen Vierbeiner das Wort „Atomstrom“ brummen lassen. In der ARD-Vorabendserie „Die Lindenstraße“ fand am 26. November 1989 eine Anti-Atom-Aktion vor dem Wohnhaus des damaligen Umweltministers Klaus Töpfer (CDU) statt, organisiert von „Lindenstraßen“-Teenie Benny Beimer. Ein Jahr später rief er in Folge 257 unter dem Motto „Licht aus!“ zum allgemeinen Stromboykott auf.

Internationale Bestseller zum Thema waren bis in die 1990er Jahre „Schwarzer Regen“ von 1965 – der Japaner Masuji Ibuse erzählt in diesem Roman von den Strahlenopfern von Hiroshima und Nagasaki. Sowie „Das letzte Ufer“, ein Science-Fiction-Roman des Briten Nevil Shute von 1957, der die Welt nach einem Atomkrieg zeigt. (kat)

Wie in jedem Katastrophenroman steigert sich der Horror. Die radioaktive Wolke, vor der die Be­woh­ne­r:in­nen fliehen, nähert sich rasant. Noch schneller bröckelt der Firnis der Zivilisation. Auf der Flucht ist sich jeder selbst der Nächste, die Autos sind zu voll gepackt, um Passagiere aufzunehmen. Uli wird von einem Wagen überfahren und stirbt. Der Autofahrer rast weiter. Die Spaltung der Gesellschaft in Davongekommene und Opfer zieht sich durch den Roman, „Hibakusha“ werden die Strahlenkranken in der „Wolke“ genannt, so wie in Japan die Überlebenden der Atombombe. Im „Schewenborn“-Roman vollzieht sich der Bruch der Zivilisation, wenn Bewohner kriegsversehrte Kinder ermorden. Ein Vater tötet sein missgebildetes Baby und sagt: „Was ist wohl barmherziger, so oder so?“

Die Komparatistin Jenny Willner hat sich in ihrem Aufsatz „Die letzten Zombies von Schewenborn“ mit dem Roman befasst. Sie zeigt, dass die atomare Katastrophe hier indirekt auf den Zweiten Weltkrieg verweist, die NS-Vernichtungspolitik aber nicht erwähnt wird – im Unterschied zu anderen Büchern Pausewangs, die ihr Schaffen unter das Credo „Nie wieder Nationalsozialismus“ stellte. Der Horror der Beschreibungen werde in diesem Buch auch dadurch überdeterminiert, dass den dystopischen Zukunftsschilderungen Elemente einer tabuisierten, mit Schuld und Scham besetzten Vergangenheit beigemengt sind, meint Willner.

Angst ist eine rationale Reaktion, kann aber auch lähmen

Pausewang wollte aufklären und Kindern Mut machen, das schreibt sie selbst im Nachwort, was angesichts der Brutalität des Romans irritiert. „Mut zur Angst“ lautet eine Formel des Philosophen Günther Anders, der 1956 in seiner Zeit­diagnose „Die Antiquiertheit des Menschen“ mit Blick auf die Atombombe von Apokalypseblindheit sprach. „I want you to panic“, schmetterte Greta Thunberg 2019 dem Publikum beim Weltwirtschaftsforum entgegen. Angst ist durchaus eine rationale Reaktion auf die Klimakatastrophe, auf Reaktorunfälle und auf die Atombombe. Angst kann zu politischem Handeln bewegen. Darauf setzt heute die Klimabewegung wie die Friedens- und Anti-AKW-Bewegung der 1980er.

Pausewangs Bücher passten zum Lebensgefühl dieser Zeit, der Angst vor Krieg und Atomkraft. 1981 gingen Hunderttausende auf die Straße gegen den Nato-Doppelbeschluss und gegen das AKW Brokdorf. Thunberg wurde von Wirtschaftsliberalen und Konservativen „Klimahysterie“ vorgeworfen, Pausewang damals von Unionspolitikern und der Atomlobby Angstmacherei. Trotzdem: Der überbordende Horror der „Letzten Kinder von Schewenborn“ hätte nicht in die Kinderzimmer von 12-Jährigen einziehen müssen. Angst kann auch lähmen.