Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen
Zu Besuch bei Jenny De la Torre Castro in Berlin-Mitte. Die Ärztin hat dort ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut.
OFW ist das Verwaltungskürzel für „ohne festen Wohnsitz“. Die Zahl der Betroffenen ist nicht bestimmbar, sie steigt stetig, eine Obdachlosenstatistik gibt es nicht. Für 2013 wird von schätzungsweise 300.000 Wohnungs- und Obdachlosen deutschlandweit ausgegangen. In Berlin gibt es geschätzte 10.000 Wohnungs- und Obdachlose, ein Teil von ihnen lebt in extremer Armut auf der Straße, darunter zunehmend Armutsmigranten aus Osteuropa.
In Berlin stehen in der kalten Jahreszeit jedoch nur knapp 500 von der Stadt finanzierte Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Diese Nachtquartiere für Männer und Frauen bieten in der Regel Übernachtung auf dem Fußboden, auf eng nebeneinanderliegenden Isomatten. Sie sind regelmäßig überfüllt.
Wer es nicht erträgt, in solchen Massenquartieren zu schlafen oder kein Unterkommen für die Nacht ergattern kann, dem bleiben nur die Kältebusse der karitativen Einrichtungen, aus denen Sozialarbeiter nachts Schlafsäcke, Decken, heißen Tee und Suppen an die Obdachlosen auf der Straße verteilen. Die Chance, durch den permanenten Stress des kräfteverzehrenden täglichen Existenzkampfes chronisch krank zu werden, sich Erfrierungen zuzuziehen oder Schlimmeres, die ist groß. Jeden Winter erfrieren in deutschen Städten Obdachlose, das gehört schon zur Normalität.
In der Pflugstraße in Berlin-Mitte, einer kleinen Parallelstraße der Chausseestraße, steht ein schön gegliedertes dreigeschossiges Backsteinhaus, mit Hof, alten Bäumen und Garten im hinteren Teil des Grundstücks. In diesem ehemaligen Schulgebäude von 1890 befindet sich heute das privat betriebene Gesundheitszentrum für Obdachlose von Jenny De la Torre. Es bietet Wohnungs- und Obdachlosen montags bis freitags von 8 bis 15 Uhr kostenlose medizinische und darüber hinaus umfangreiche interdisziplinäre Hilfe an.
„Es soll nicht kalt wirken“
Jenny De la Torre ist keine reiche Erbin und sie ist auch keine besoldete Armenärztin. Sie hat sich in das unwägbare Abenteuer gestürzt, ihr Projekt mit Hilfe von Spenden und engagierten Helferinnen und Helfern eigenständig zu realisieren. Seit 7 Jahren mit Erfolg. Inzwischen verfügt sie über eine mehr als 20 Jahre umfassende Erfahrung als Armenärztin, ihre Obdachlosenarbeit hat in Deutschland Maßstäbe gesetzt.
Dr. med. Jenny De la Torre Castro ist Obdachlosenärztin und Initiatorin des Gesundheitszentrums für Obdachlose in Berlin. 1960 Einschulung i. d. Antonio-Moreno-de-Caceres-Schule in Puquio, Peru. 1972 Abschluss d. Oberschule. 1973 Studium d. Medizin a. d. Universität San Luis Gonzaga de Ica. 1976 Delegierung z. Auslandsstudium i. d. DDR. 1977 Studium d. Medizin a. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, Examen 1982. 1983–1990 Charité Berlin, Abteilung f. Kinderchirurgie. 1986 Geburt ihres Sohnes. 1989 Facharztausbildung z. Kinderchirurgin a. d. Charité Berlin, 1990 Promotion Dr. med. summa cum laude. 1990 Gastärztin a. Landeskrankenhaus Salzburg.
Zwischenzeitliche Versuche, in die Heimat zurückzukehren u. dort als Armenärztin zu arbeiten, scheiterten an bürokratischen Hürden in Peru, was zum endgültigen Entschluss führte, in Deutschland zu bleiben. 1991 Beratungstätigkeit für „Schwangere und Mütter in Not“, Berlin. 1994–2003 Ärztin für Obdachlose in Berlin am Ostbahnhof. 1998 Lehrauftrag als Gastdozentin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie (Fach Sozialmedizin) a. d. Charité Berlin.
Sie erhielt für ihre Obdachlosenarbeit mehrere Preise u. Auszeichnungen, u. a.: 1997 Bundesverdienstkreuz; 1997 Ehrenbürgerschaft ihrer Geburtsstadt Nazca (Peru); 2002 Goldene Henne (mit diesem Preisgeld gründete sie 2002 d. „Jenny De la Torre-Stiftung“ zur medizinischen Versorgung Obdachloser). 2003 Kündigung aus Protest gegen eine Kürzung ihrer Stundenzahl i. d. Obdachlosenpraxis am Ostbahnhof. Planung zum Aufbau eines unabhängigen Gesundheitszentrums für Obdachlose. 2004 wurde das passende Haus gefunden und systematisch mit d. Aus- und Aufbau des Gesundheitszentrums begonnen. 2008 kauft ihre Stiftung das Haus und sichert so das Gesundheitszentrum auch für die Zukunft. 2011 erhielt sie den Charity Award, 2013 die Louise-Schroeder-Medaille. Jenny De la Torre wurde 1954 in Nazca in den Anden Perus geboren.
Leser, die etwas spenden möchten: Jenny De la Torre-Stiftung, Berliner Sparkasse, Kontonummer: 6 600 003 764, BLZ: 100 500 00
Vor 9 Jahren waren wir, Elisabeth Kmölniger und ich, schon einmal hier, auch um 8 Uhr morgens. Damals war alles noch in der Renovierungsphase.
Frau Dr. De la Torre empfängt uns mit festem Händedruck, frisch und munter im weißen Kittel, ihre Augen glänzen unternehmungslustig. Sie zeigt uns kurz das Haus, öffnet die Türen zu den noch leeren Behandlungs- und Aufenthaltsräumen und freut sich über unser Lob der Möblierung und der zarten Wandfarben. „Die Möbel hat uns das Hotel Mariott gespendet und Farben für die Wände habe ich selbst ausgesucht, es sollte nichts kalt wirken hier“, sagt unsere Gastgeberin und führt uns in ihre Ordination. Wir möchten gerne wissen, wie sich das Gesundheitszentrum entwickelt hat seit der Eröffnung 2006.
Unabhängigkeit bewahren
„Wir hatten das Haus hier für 10 Jahre mit Nutzungsvertrag bekommen, ursprünglich, wir haben es gründlich renoviert mit Spenden- und Stiftungsgeldern und nach 4 Jahren hat die De la Torre-Stiftung dann das Haus unerwartet erwerben können, das hat sich glücklicherweise so ergeben. Es war sinnvoll gewesen, das Haus zu kaufen, weil da jetzt ganz viele Menschen was davon haben, nicht nur die Obdachlosen, auch die Mitarbeiter, die hier fest angestellt sind, und unsere ehrenamtlichen Kollegen, die bei uns im Haus was Sinnvolles machen wollen.
Wir sind unabhängig, müssen nicht mehr befürchten, dass man uns raussetzt, die Mittel kürzt, die Stundenzahl halbiert oder die Stellen streicht. Das habe ich alles hinter mir! Wir haben alles aus eigenen Mitteln und Spenden bezahlt, weil wir keine Schulden machen wollten. Nie im Leben! Auch privat nicht, Schulden sind für mich ein rotes Tuch!
Wir haben heute acht fest eingestellte Mitarbeiter, eine davon bin ich.“ Sie lächelt. „Ich bin genauso angestellt wie alle. Die anderen Ärzte allerdings, die sind alle ehrenamtlich. Also wir haben neben der Arztpraxis eine Zahnarztpraxis, denn es gibt enorme Zahnprobleme, eine Augenärztin haben wir – Augen ist auch sehr wichtig, weil ohne Brille die Leute teilweise nicht mehr lesen können. Dann gibt es Hautärzte, Orthopäden, eine Psychologin, die Sozialarbeiterin, vier Rechtsanwälte – zwei kommen regelmäßig her – und dann haben wir noch Frau Winter, die Friseuse, die einmal wöchentlich kommt, und zwei Gärtner kommen auch ehrenamtlich.
Wir versuchen, unseren Besuchern so viel wie möglich anzubieten. Natürlich haben wir auch eine Suppenküche. Wir kochen aber nicht selbst, das Essen wird uns angeliefert von der Kiez-Küche hier in der Nähe, wir geben es nur aus. Einmal in der Woche kommt die ’Tafel‘ und bringt Joghurt, Quark, frisches Obst, das wird hier in der Küche schön zurechtgemacht, also wir haben einen super Koch. Wir können viel bieten. Es gibt Tageszeitungen, Bücher und die Möglichkeit, Musik zu hören.
Frauen brauchen Tampons
Was wir nicht haben, ist eine öffentliche Waschmaschine, weil die Sachen, die hier ausgezogen werden, die können Sie echt nicht mehr waschen, die kann man nur noch entsorgen. Das zu waschen, zu desinfizieren, würde so viel an Zeit und Personal kosten – das geht einfach nicht. Wir haben eine sehr gut sortierte Kleiderkammer, da bekommt derjenige problemlos frische Wäsche und Kleidung, Schuhe, alles. Für die Frauen gibt es auch Tampons und Binden, Frauen brauchen so was.
Mit den hygienischen Einrichtungen ist es so: Wir haben zwar Duschen für Männer und Frauen, aber die sind in erster Linie für Patienten, also für die, die krank sind. Das Problem ist nämlich, wenn jetzt 30 oder sogar 50 Leute kommen und die alle duschen wollen, dann geht das schon rein technisch nicht. Jeder braucht ungefähr eine Stunde, mit ausziehen, duschen, anziehen. Bei manchen muss man auch noch ein paarmal klopfen – ich kann’s ja verstehen, dass sie das heiße Wasser so lange wie möglich genießen möchten, aber oft herrscht Andrang und es gibt ein bisschen Radau draußen. Und es muss die Dusche von uns nach jedem, der sie benutzt hat, sorgfältig desinfiziert werden, damit der nächste sich keinen Fußpilz oder sonst was einfängt. Das muss 10 Minuten einwirken. Deshalb machen wir es so: Wenn keine Patienten da sind und es nicht zu viele sind, dann können die anderen natürlich auch duschen. Wenn Patienten da sind, dann nicht.
Es ist ja ein Gesundheitszentrum. Schwerpunkt ist hier die Hilfe für Kranke. Aber wir sehen uns natürlich auch die anderen Probleme an, denn auch die müssen berücksichtigt werden. Und es sind ja nicht nur körperliche Krankheiten, mit denen die Patienten kommen, sondern auch seelische. Sie haben Süchte. Sie sind teilweise auch psychisch ziemlich krank. Und sie haben rechtliche Probleme, viele haben Schulden, haben soziale Probleme, Konflikte mit der Polizei, dem Ordnungsamt, Konflikte mit der Familie, oder gar keinen Kontakt mehr. Und das meine ich mit ’sozialen Krankheiten‘, sie leiden an einer sozialen Krankheit.
Wenn man das nicht berücksichtigt – also wenn man den Menschen nicht in seiner Gesamtheit wahrnimmt –, dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann zwar immer wieder seine Wunden heilen, seine Krankheiten behandeln, die er von der Straße mitbringt, aber oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die Reintegration. Ich will, dass die Leute weg von der Straße kommen! Und da gehört eben alles dazu, medizinische Versorgung, Hygiene gehört dazu, Kleidung, Essen, soziale Beratung, juristische Beratung.
Versicherung hat keiner
Viele haben keinerlei Papiere mehr. Ein Ausweis ist ja das Erste. Aber ohne Fotos kein Ausweis, ohne Ausweis kein Hartz IV und nichts. Wir haben hier im Haus die Möglichkeit, Passfotos zu machen, ein ehemaliger Fotograf macht das ehrenamtlich. Und es gibt Stellen, wo sich Obdachlose pro forma polizeilich anmelden können. Wenn diese Hürde genommen ist, dann ist ein wichtiger Schritt gemacht. Darum geht es!
Ich habe mich entschieden, diese Arbeit zu machen, denn man kann nicht warten, bis irgendwas geregelt wird. Die Leute sind ja da und sie brauchen diese Hilfe und sie brauchen sie jetzt! Im Winter wird es wieder ganz besonders hart für die Obdachlosen. Viele werden krank, laufen herum mit Fieber, schlafen nachts irgendwo draußen in der Kälte und dabei gehören sie doch ins Bett, um gesund zu werden. Eine Krankenversicherung hat keiner. Manchmal werden uns die Leute direkt von den Behörden geschickt, wenn zum Beispiel einer gerade seinen Antrag gestellt hat auf Arbeitslosengeld, aber bis das genehmigt ist, vergehen 5 bis 6 Wochen und so lange ist er nicht krankenversichert.
Wir kümmern uns natürlich auch um die, aber darin sehe ich eigentlich nicht meine Aufgabe. Wenn ich mich jetzt ärgern würde, würde ich aber viel zu viel Energie nur dafür verbrauchen. Ich konzentriere mich lieber auf meine Patienten, auf den Menschen, den ich vor mir sehe. Und ich versuche, ihm auch ein bisschen Optimismus zu vermitteln, denn wenn ich immer nur herumschimpfen würde, über das, was alles schiefläuft draußen, dann baut ihn das auch nicht auf. Dann verkriecht er sich vielleicht noch mehr.
Also hierher kommen Leute, die Probleme mit ihrer Gesundheit haben und viele andere Probleme, die sich ein Mensch, der das nicht kennt, gar nicht so richtig vorstellen kann. Wenn ein Patient zum ersten Mal kommt, dann wird er ganz normal aufgenommen. Es kommt zum Beispiel ein Herr Müller und sagt: ’Ich möchte hier eigentlich nur in die Kleiderkammer und ein bisschen Essen, ich bin obdachlos geworden vor ein paar Wochen und weiß nicht, was ich machen soll, man hat mir den Ausweis geklaut, außerdem habe ich keine Krankenversicherung und ich fühle mich schlecht, habe da und dort Schmerzen.‘
Flaschen sammeln
Da müssen wir erst mal ganz am Anfang anfangen mit dem Herrn Müller, fragen, wann war er zum letzten Mal beim Arzt, wann und weshalb ist er obdachlos geworden, wo wird geschlafen, bei Bekannten, draußen oder in Obdachlosenunterkünften, wovon lebt er, Flaschen sammeln, betteln, Suppenküchen, was hat er gearbeitet vorher – manche haben Anspruch auf Hartz IV, haben aber nie einen Antrag gestellt –, welche Schulbildung hat er, ist oder war er verheiratet, gibt es Kinder? Wenn ich ein ungefähres Bild von diesem Menschen habe, dann können wir einen Plan machen, wie wir ihm auch sozial helfen können.
Wenn Herr Müller aber seine Geschichte nicht erzählen möchte, lieber anonym bleiben will, dann kann er das natürlich. Er muss sich aber einen Namen ausdenken für meine Unterlagen, weil ich mein ärztliches Handeln ja aufschreiben muss, Sachen wie: Hat Penicillin bekommen usw. Eine Frau war da, die hat sich ’Regenbogen‘ genannt, eine andere wollte gerne ’Mütze‘ heißen. Ich sage, von mir aus, Hauptsache beim nächsten Kontakt wissen Sie es noch.
Zeit und Geduld
Die meisten geben aber Auskunft über sich. Wenn ich erfahre, der ist erst relativ kurz obdachlos, dann kann ich ihm ganz anders helfen als einem, der seit 15 Jahren auf der Straße lebt. So ein langjährig Obdachloser braucht viel Zeit und Geduld, er ist kaum noch in der Lage, sich mit Behörden auseinanderzusetzen. Sie haben sich damit abgefunden, auf der Straße zu leben und sind damit rund um die Uhr beschäftigt. Die Sozialanamnese ist für mich wichtig, denn nur so weiß ich, was jemand neben einer medizinischen Betreuung noch braucht.
Bei der medizinischen Anamnese, da sind die wichtigsten Fragen: Hepatitis, HIV, Tuberkulose, Syphilis, das sind ja alles meldepflichtige Krankheiten.
Einige Patienten sind drogenabhängig. Ich mache so eine Grunduntersuchung: Diabetes, Bluthochdruck, Sauerstoff und lasse mir schildern, was er für Beschwerden hat. Alles, was ich hier ambulant für ihn tun kann, wird dann gemacht. Zum Röntgen usw. schicke ich ihn zum Gesundheitsamt. Oft gibt es auch Probleme mit den Zähnen, dann schicke ich ihn in unsere Zahnarztpraxis, viele haben auch Schwierigkeiten mit dem Sehen, die können dann zu unserer Augenärztin gehen, die auch eine Brillensammlung hat aus Spenden. Wir bieten den Patienten auch noch das und das an: Wenn es Probleme mit der Justiz gibt, wir haben auch Rechtsanwälte – mancher hat ’ne Flasche oder Lebensmittel mitgehen lassen, viele haben Schulden, weil sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt wurden, und Angst haben vor der Haftanstalt.
Wir haben eine Sozialarbeiterin, die ihnen hilft, die kann sofort die Seite ausdrucken – man kann ja jetzt fast alle Formulare aus dem Internet holen –, sofort ausfüllen und, zack, zum Amt damit. Technisch ist das gar kein Problem. Wenn einer total Angst hat, da alleine hinzugehen, dann geht sie mit. Aber wir überschütten die Leute natürlich nicht gleich mit Hilfe, um Gottes Willen, sie sollen auch mal zur Ruhe kommen. Ich sage, gehen Sie erst mal nach oben essen und in die Kleiderkammer, wenn Sie etwas brauchen. Ich habe täglich die Praxis offen von 8 bis 15 Uhr, und Frühstück gibt es täglich schon ab 8.30 Uhr, bis 14 Uhr ist die Küche offen.
Ein Jahr Zeit
Ich achte aber darauf, dass die Leute hier nicht endlos obdachlos rein-, obdachlos rausgehen. Da können sie genauso gut anderswo essen gehen. Wir sind ja in dem Sinne keine Suppenküche. Wir sind zum einen Gesundheitszentrum und wollen aber auch, dass die Leute nicht auf der Stelle treten, sondern ein bisschen weiterkommen. Wir haben so ein Kärtchen eingeführt, mit dem kann jemand einen ganzen Monat lang essen. Und nach einem Monat spreche ich mit ihm, frage, wie geht es Ihnen, waren Sie beim Amt, was hat sich ergeben, welche Probleme gibt es? Und dann bekommt er wieder sein Kärtchen von der Sozialarbeiterin.
Wir lassen den Leuten Zeit. Ein ganzes Jahr. Dann sage ich: okay. Moment mal, brauchen Sie unsere Hilfe überhaupt noch? Ich sehe Sie doch jetzt seit einem Jahr. Sie sehen immer schlimmer aus. Ich habe den Eindruck, wir können Ihnen nicht wirklich helfen. Meistens überlegen sie es sich dann doch und unternehmen etwas, um weg von der Straße zu kommen. Wenn wir sehen, er kann es schaffen, dann machen wir diesen Druck und helfen nach allen Kräften. Aber wenn ich sehe, das wird nix, dann lassen wir die Leute, manche haben wir schon seit Jahren hier. Manche sind auch psychisch krank, da wäre Druck ganz falsch. Man muss das von Fall zu Fall klären.
Meist sind es ja Männer, die hierher kommen. Voriges Jahr hatte ich 83 Prozent Männer und 17 Prozent Frauen hier, im Durchschnitt sind es immer so 80 zu 20 Prozent. Und altersmäßig? Also das geht von 15 bis 80 Jahre eigentlich, aber 90 Prozent sind zwischen 30 und Ende 50. Damals am Ostbahnhof hatte ich – laut meinen Karten – so um 4 Prozent Drogenabhängige, aber heute sind es wesentlich mehr. Die Zahl der Alkoholkranken ist natürlich höher, 60 bis 70 Prozent.
Die meisten Patienten hier sind deutsche Staatsbürger, zunehmend kommen aber auch Osteuropäer, Rumänen vor allem und Polen. Manche sind komplett betrunken. Sie haben teilweise keine Papiere. Wer von ihnen krank wird, muss die Behandlung privat bezahlen, EU-Bürger aus Osteuropa haben bisher keinen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die haben große Probleme, sie können auch nicht ins Obdachlosenheim, das geht nur mit Kostenübernahmeschein und den kriegen sie nicht. Es kamen auch mal Roma, die hatten zwar irgendwelche Unterkunft in Moabit, waren aber nicht versichert. Da ging’s um Zahnschmerzen. Aber es kommen auch Leute aus anderen Nationen, von Griechenland über Afrika bis zu Neuseeland.
Armutskrankheiten
Aber die meisten Patienten sind deutscher Herkunft und oft in einem schlechten Allgemeinzustand. Unsere Hautärzte sagen oft: ’Also hier sieht man Sachen, so was habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht gesehen. Wunden, Hauterkrankungen, Krätze, richtige Krätze, Parasiten, ja, Läuse, alles!‘ Die Leute haben typische Armutskrankheiten, zum Beispiel die sogenannte Schleppe, das ist eine bakterielle Hautkrankheit mit Eiter- und Krustenbildung, oft am ganzen Körper bis zum Kopf. Da muss man erst mal vollkommen säubern, desinfizieren und behandeln. Und dann gibt es natürlich Magenprobleme, Geschwüre durch den ganzen Stress, die schlechte Ernährung, Schlaflosigkeit, denn sie können ja nirgendwo ruhig schlafen. Viele sind auch schon operiert worden.
Es gibt Lungenerkrankungen – einer kam mal mit einer offenen Tuberkulose, ich konnte ihn sofort mit dem Krankentransport einweisen in die Klinik – chronische Bronchitis, Asthma. Und dann natürlich Erkrankungen durch Alkohol, Bauchspeicheldrüse, Leberzirrhose, klar! Einige fügen sich Selbstverletzungen zu, schneiden sich mit Rasierklingen, brennen sich mit Zigaretten, junge Mädchen, aber Jungs auch. Es gibt viele Anämien. Verletzungen durch Stürze. Es gibt unbehandelte Diabetiker, offene Beine und natürlich auch Erfrierungen in jedem Winter. Meistens sind es die Zehen. Einer hat seinen Vorfuß dadurch verloren. Alles Krankheiten, die direkt mit der schlechten Lebenssituation zu tun haben.
Auch im HNO-Bereich gibt’s vieles: Mittelohrentzündungen, schwere Angina, damit kommen sie erst, wenn sie nicht mehr sprechen können. Augeninfektionen kommen oft vor. Viele haben Blasenerkrankungen von der Kälte, Inkontinenz, Durchfall, was ganz besonders schlimm ist, wenn man weder Zugang zu einer Toilette hat noch zu Wasser und frischen Sachen. Als ich damals anfing in der Praxis am Ostbahnhof, da habe ich so viele verwahrloste Menschen gesehen, wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Verwahrlost heißt: Es kommt ein Mensch, der schon von Weitem stinkt, er hat ewig die Hose nicht ausgezogen, die Socken sind angewachsen, die Maden kommen raus, es regnet Kopf- und Filzläuse, da muss der Pfleger erst mal eine Ganzkörperrasur machen, entlausen und alles aufweichen … also so was ist schon extrem! Jetzt sehe ich immer noch welche, aber nicht mehr so viele. Es gibt inzwischen vier Praxen in Berlin, das wirkt sich aus. Wir alle haben in Berlin schon was erreicht. Ein wenig jedenfalls.
Spenden erwünscht
Was hat sich geändert in den vergangenen Jahren? Es gibt sehr viele Menschen, die nicht obdachlos sind, aber sie haben keine Krankenversicherung, waren vielleicht mal selbstständig, zum Beispiel als Taxifahrer, und sind dann raus aus der privaten Kasse, weil sie die 600 Euro nicht mehr zahlen konnten und auch nicht die Hälfte für Bedürftige.“ (Rund 137.000 nicht krankenversicherte Personen gibt es laut Statistischem Bundesamt. Und 150.000 Privatversicherte können ihre Policen nicht mehr bezahlen und bleiben die Beiträge schuldig. Anm. G. G.) „Das geschieht seit 2009, seit es dieses Gesetz gibt zur Versicherungspflicht. Also hier bei uns gehören zu den Patienten jetzt auch so 20 Prozent etwa, die normal wohnen, aber nicht versichert sind. Eine Frau hat mich mal angerufen und gesagt, sie schläft mittlerweile in ihrem Kiosk, weil sie sich nur Miete oder Versicherung leisten kann. Auch kleine Rentner, die ihre Zusatzmedikamente oder Brille nicht bezahlen können.
Überhaupt kommen zunehmend Patienten, da sage ich: Um Gottes Willen, was wollen denn diese Personen hier?! Ich mache das nun schon fast 20 Jahre, am Anfang kamen die klassischen Obdachlosen in meine Sprechstunde, arme Leute aus der unteren Schicht, inzwischen kommen heute auch Arme aus ehemals besseren Verhältnissen, die gebildet sind. Wir hatten schon einen Doktor der Pädagogik, einen Architekten, einen Anästhesisten, eine Krankenschwester …
Was ich mir wünsche? Na ja, ich wünsche mir, dass wir weiterhin Spenden bekommen, damit es weitergehen kann. Von 2006 bis heute haben wir es geschafft. Und ich wünsche mir an erster Stelle natürlich, dass wir so viele Leute wie möglich von der Straße weg bekommen. Unsere Patienten hier, die träumen ja nicht von Palästen oder so. Die sehnen sich nach einem ganz einfachen, normalen Leben. Sie wollen nicht unter der Brücke im Park oder im Abrisshaus schlafen, und auch nicht mit mehreren anderen in einem Raum, wo der eine schnarcht, der andere im Schlaf redet oder nicht schlafen kann. Sie wollen ein Zimmer für sich allein, eine kleine Wohnung. Ich sage mir, es muss doch möglich sein, dass wir in einem so reichen Land die Leute von der Straße holen können?! Ich finde, dass das Problem lösbar ist.
Mein Motiv? Wissen Sie, ich bin in Peru in den Anden aufgewachsen und als ich 13 Jahre alt war, zogen wir nach Ica, an die Küste. Dort habe ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig arme Leute gesehen. Ich war schockiert. Ich habe mich immer sehr interessiert für dieses Problem, es hat mich empört! Und aus diesem Grund bin ich eigentlich Ärztin geworden. Ich mache das hier nicht, um karitativ tätig zu sein, zu missionieren oder zu erziehen. Ich möchte den Leuten in ihrer akuten Notlage medizinisch und auch mental helfen, und mir geht es darum, sie so zu stärken, dass sie ihr gutes Recht wahrnehmen können, als Bürger, die sie nach wie vor sind!“
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