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Armee räumt den Tahrir-Platz in Kairo"Die haben scharf geschossen!"

Der zweite Teil der Revolution: In der Nacht zum Samstag räumt die Armee mit Gewalt den Tahrir-Platz. Aber die Menschen erkämpfen sich den Platz zurück.

"Wenn wir jetzt aufgeben, ist alles verloren." Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Bild: dapd

KAIRO taz | Gegen zwei Uhr morgens wird die Spannung unerträglich. Die Jugendlichen, die an den dürftigen Barrikaden Wache halten, kauen an den Nägeln, paffen eine Zigarette nach der anderen. Auf dem Platz, in gelbliches Licht getaucht, stehen und hocken sie in kleinen Gruppen zusammen und beraten die Strategie. Nur vorn, wo die Talat-Harb-Straße auf den Tahrirplatz mündet, ist es laut und ausgelassen, auf einer Bühne spielt der Sänger Ramy Essam auf seiner Gitarre, vor ihm tanzen die Protestierenden. Er endet mit einem Song gegen das ägyptische Militär. Zehn Minuten vor zwei. Alle warten auf den Beginn der Ausgangssperre um zwei. Und auf das Militär, das, so die Erwartung, kommen wird, den Platz zu räumen.

Es ist ein bisschen, sagen viele, wie an den ersten Tage der Revolution, Ende Januar. Eine riesige, fröhliche Demonstration hat sich den ganzen Tag über den Tahrirplatz gewälzt und gefordert, das alte Regime endgültig zu entmachten, die alten Strukturen aufzulösen. Es war die größte Demonstration der Revolution seit dem Rücktritt des Expräsidenten Husni Mubarak.

Um drei Uhr in der Nacht werden aufgeregte Rufe laut: "Die Armee! Die Armee kommt!" Sie kommt, und sie kommt in gewaltiger Zahl: Rund 5.000 Soldaten marschieren auf den Platz, kesseln die Protestierenden ein - und eröffnen das Feuer. Die ägyptische Armee, die sich während der Revolution weigerte, auf DemonstrantInnen zu schießen und als "Retterin" der Revolution gefeiert wurde, schießt mitten in die Protestierenden hinein. "Wie Tiere", sagt Leila, "wie Tiere haben sie uns zusammengeschossen!"

"Ich bin nur gerannt, gerannt"

Die Protestierenden stieben in Panik auseinander, stolpern, rappeln sich auf, immer in Richtung Nilbrücke, dem einzig freien Weg. "Ich habe meine Leute verloren", sagte Fatima. "Ich bin nur gerannt, gerannt, ich dachte, meine Lungen platzen." Mustafa weint, vor Erschöpfung, vor Schock. "Ich bin zwei Stunden nur um mein Leben gerannt. Die haben auf uns geschossen. Die haben tatsächlich scharf auf uns geschossen!" Viele erzählen nicht nur von ihrer eigenen Angst, sondern auch von dem, was sie gesehen haben. Wie die Soldaten ganz gezielt zu jenem Zelt gegangen sind, in dem sich jene Armeeangehörigen aufhielten, die sich trotz eines Verbots der Armeeleitung den Protesten angeschlossen hatten. Wie sie sie herauszogen, drei direkt erschossen, mehrere totprügelten.

Keine Stunde später stehen Videos im Netz, auf denen man den Ablauf der Räumung detailliert sehen kann, ununterbrochen sind die Gewehrsalven zu hören. Die Armee beschießt das Gebäude am Rande des Platzes, aus dem gefilmt wird. Sie zieht durch die Straßen, in der Innenstadt sind die ganze Nacht durch überall Schüsse zu hören, sie schießt auf Häuser, Augenzeugenberichten zufolge stirbt dabei ein Passant.

Am nächsten Morgen ist der Tahrirplatz ein Schlachtfeld. Zwei ausgebrannte Laster qualmen noch vor sich hin, das Gras ist zertreten, auf dem Sand, den Fahrbahnen häufen sich leere Patronenhülsen. Der regierende Militärrat gibt am Nachmittag eine Pressekonferenz, weist alle Vorwürfe zurück und schiebt mögliche Verletzungen auf Steinwürfe der Demonstranten. "Wie zu Mubaraks Zeiten", stöhnen zahlreiche Aktivisten.

Am Abend sind sie alle wieder da. Manche humpeln, haben einen Arm in der Schlinge. Kugeln des Militärs. Die Barrikaden sind jetzt höher, stabiler, mit Rollen aus Stacheldraht, einem alten Laster, Taxis haben zur Sicherung davor geparkt. "Wenn wir jetzt aufgeben, ist alles, was wir uns erkämpft haben, verloren", sagt Rana. Und Ramy fügt hinzu: "Das ist der zweite Teil der Revolution. Nur kämpfen wir dieses Mal nicht gegen ein Marionettenkabinett, sondern gegen die wirkliche Macht, die Armee." Warten. Kurz vor Beginn der Ausgangssperre. Zwei Uhr. Drei Uhr. Als um fünf Uhr die Ausgangssperre aufgehoben wird, geht ein Aufatmen durch die Menge auf dem Tahrirplatz. Niemand kann es richtig fassen: Die Armee hat den Platz nicht angegriffen! Eine Nacht, zumindest, gewonnen.

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5 Kommentare

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  • K
    Klaus

    Wie gehen wir mit den widersprechenden Aussagen um? Wer hat wirklich etwas gesehen? Welchen Quellen soll man vertrauen? Und hier: Wer weiß besser Bescheid - Juliane (Artikel) oder Karim (Kommentar)?

     

    Auf der anderen Seite wissen wir sehr genau, dass die Ereignisse sehr ernst sind. Das Militär schüchtert die Aktivisten ein. Maikel Nabil Sanad ist verurteilt, andere werden noch verurteilt werden und die Revolution führt möglicherweise nur zu einem Regime-Wechsel und lässt die poltischen Verhältnisse unberührt...

     

    Für unsere Wahrnehmung der Ereignisse ist es sicher nicht unerheblich, ob scharf geschossen wurde oder nicht. (Ich wünsche mir, Karim glauben zu können.) Soviel scheint sicher: wir werden es aus Berlin nicht erfahren...

     

    PS: Vielleicht wäre die Schlussfolgerung aus dieser unsicheren Datenlage richtig, weniger journalistischen "Essay" und mehr "Information" zu liefern. Zudem: Meine eigenen Bedürfnisse zumindest liegen derzeit bei den Informationen. Auch wenn das unschön klingt: Entsetzen habe ich schon sehr viel in mich aufgenommen und ich weiß nicht wohin damit. Doch mein Wissen ist zu allem dem vergleichsweise gering und möchte und muss wachsen... Danke

  • FB
    Freiheit, Brot und Würde!

    Jetzt finde ich es besonders wichtig sich für Ägypten und Syrien, und die anderen Aufstände zu interessieren und am besten Kontakte herzustellen.

    In meiner Stadt haben Ägypter eine Demo mitorganisiert.

    Ja klar, das Militär ist die eigentliche Macht.

     

    Können Sie auch Ivesa Lübben interviewen, sie ist auch auf dem Laufenden, Kennerin der LAge, war auf dem Tahrirplatz im Februar.

     

    Freiheit, Brot und Würde!

  • E
    Elmar

    Es geht um demokratische Rechte? Ja.

    Und das Militär zeigt immer deutlicher auf welcher Seite es steht: Auf der Seite der lukrativen Geschäfte.

     

    Wer verhindert eigentlich dass der Kampf um demokratische Rechte sich durchsetzt?

    Die FDP-nahe Naumann-Stiftung hat den Putsch in Honduras begrüsst und tut das weiterhin.

     

    Wer hat Mubarak mit so lange an der Macht gehalten?

    Es waren die NATO-Staaten, die in Chile putschten oder in belgisch-Kongo gegen Lumumba - um nur wenige Beispiele zu nennen.

     

    Wir lasen über Gladio, Terror gegen die eigene Bevölkerung in Europa, um die sozialistische Opposition zu kriminaliseren. Wir haben gelernt dass Wahlen in Dtl nicht viel verändern, dass die meisten Medien und Politiker in den Händen der US-Besatzer sind. 80% sind gegen ein militärisches Eingreifen in Libyen. Aber 95% im Bundestag stimmen dafür?

     

    Wer will Hartz IV? Wer akzeptiert den Einsatz von Uran-Waffen, oder findet es toll dass Deutschland während der Irak- und Afghanistan- Feldzüge zu einer Drehscheibe der US-Aggressionen gegen souveräne Staaten wurde?

     

    Noch hört man in Dtl kaum Forderungen nach einem Regime Change, aber ich frage mich, wie sich Polizei und Militär in Dtl verhalten werden, wenn es hier zu Aufständen kommt.

  • JK
    Jürgen Kluzik

    Die Killer und Schläger sind gar nicht so wichtig.

    Wichtiger ist, wer hinter ihnen steht.

    Auf dem Tahrirplatz in Kairo, und mit der Gesprächsbereitschaft gegenüber Gaddafi, zeigen deutsche Geschäftlemacher und Wähler ihr wahres Gesicht.

  • K
    Karim

    Ich möchte darauf hinweisen, dass die Augenzeugenberichte bezüglich der Vorgänge am "Tahrir" mit Vorsicht zu genießen sind. Ich war selber am Tahrir, habe kurz vor zwei den Platz verlassen um die Vorgänge von einem Balkon aus mitzuverfolgen.

     

    Es war eine ziemlich mächtige Schießerei. Mit etwas Erfahrung kann man den Unterschied zwischen scharfer Munition und Knallpatronen sehr gut heraus kennen. Zum überwiegenden Teil wurden Knallpatronen eingesetzt. Dazwischen immer wieder auch scharfe Munition.

     

    Das gezielt auf Häuser geschossen wurde kann ich nicht bestätigen und wurde auch bei meinen Interviews nachher mit Augenzeugen nicht einmal erwähnt.

    Jedoch konnte man einen Durchschuss bei dem Metallgeländer im Bereich des Fastfood-Restaurants "KFC" entdecken. In unmittelbarer nähe dieser Stelle wurde einer der Offiziere getötet.

     

    Der zweite getötete Offizier wurde laut Augenzeugen mit einem Bajonett erstochen.

     

    Ein toter Zivilist wurde in der Huda Sha'arawy street gefunden. Eine Blutlache zeugte noch um ca. 10:00 Uhr von dem schrecklichen Vorfall.

     

    Die Augenzeugenberichte sind sehr mit Vorsicht zu genießen. Es gab sehr viele widersprüchliche aussagen.

     

    Auch wurden Patronenhülsen den Ausländern, welche Kameras bei sich trugen, sehr häufig nur von hinten gezeigt. Dadurch kann man nicht erkennen ob "scharf" oder "knall". Es gibt Presseleute die auch sonst den Unterschied nicht kennen.

     

    Ich selber habe am nächsten tag 2 Personen blutverschmiert, auf der Strasse liegend entdeckt. Tot? verwundet? Es stellte sich heraus, dass diese zwei Burschen diese Szene gestellt haben. Für wen wohl?

     

    Eine andere Person ist mit blutverschmierten Gesicht (man konnte eindeutig sehen das es nachträglich ins Gesicht geschmiert wurde) herumstolziert um Fotografiert zu werden.

     

    Eine andere junge Frau hatte eine Armbinde. Sie erzählte es wurde auf sie geschossen. Dabei kam sie zu Sturz und hat sich den Arm gebrochen. Am Abend des selbigen Tages, traf ich sie zufällig wieder ohne Armbinde oder sonstigen Verletzungserscheinungen.

     

    Ich möchte mit diesen Beispielen lediglich aufzeigen, dass diverse Augenzeugenberichte zu hinterfragen sind.

     

    Weiters ist festzuhalten, dass die breite Mehrheit der in Kairo lebenden Menschen zwar hinter den Demonstrationen an den Freitagen stehen, sich jedoch von der Besetzung des Tahrir-Platzen distanzieren. Ein zurück kämpfen (besetzen) des "Tahrir" wird mehrheitlich abgelehnt, auch von vielen der jungen Revolutionären.

     

    Bei den Zusammenstößen von Freitag auf Sonntag, waren bei Beginn der Ausgangssperre etwa 1000 Personen im und um den "Tahrir".

     

    Ich könnte eigentlich eine mehrseitigen Artikel darüber schreiben, doch ist ein "Kommentar" die falsche Plattform dafür.

     

     

    P.s.: Hätte mir zu diesem Thema bzw. zu den Vorgängen in Cairo etwas mehr als ein Essay erwartet!!!