Argentinische Rockband Reynols: Der spitze Schrei von Villa 31
Selten gehörte Freiheit zwischen Luxusimmobilie und Slum-Wolkenkratzer: Die Band Reynols lebt auch von ihrem unzähmbaren Größenwahn.
Seit November weiß ich wieder mit etwas größerer Sicherheit, dass ich nichts oder zumindest nicht so besonders viel weiß. Über Südamerika etwa. Über Argentinien. Über die dortigen Bands, Künstlerinnen, Musiker und Politiker. Und den ganzen Rest. Seit November weiß ich zumindest, dass es mitten in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires einen Slum gibt, dort „villa“ genannt, wo die selbst errichteten Gebäulichkeiten mehrere Stockwerke hoch sind. Eine surreale, dabei mehr als reale Wirrnis aus Blech und Stein und Plastikplanen, die einfach zusammenstürzen muss, wenn der Wind einmal etwas stärker bläst. Wenn die Erde beben sollte – und die bisher nicht zusammengestürzt ist.
Ein erster Hinweis darauf, dass in Südamerika anscheinend andere Naturgesetze gelten als auf dem Rest des Planeten, ja, dass man sich vielleicht sogar auf einem anderen Sonnentrabanten als dem unseren befindet. Wo man kaum Englisch spricht. Wo die Klimakatastrophe angesichts der sozialen Katastrophen als Wohlstandsproblemchen erscheint. Wo offensichtlich kein Sternchen oder Doppelpunkt das Miteinander der unterschiedlichsten sexuellen Präferenzen definiert, sondern sich einfach eine sehr entspannte Praxis entwickelt hat, mit der die meisten wohl bestens zu leben verstehen. Wo jeder Mückenstich Denguefieber bedeuten kann und die Einschränkungen während der Pandemie länger galten als selbst in China; wo nur die wenigstens noch wissen, dass ein paar Flugstunden entfernt ständig teuerster Impfstoff vernichtet worden ist, weil er sein Verfallsdatum erreicht hat.
Wo am Tag vor der Stichwahl zwischen dem späteren Wahlsieger Milei (verrückt) und seinem Konkurrenten Massa (korrupt) Tausende durch die Innenstadt ziehen, um für die Freigabe von Marihuana zu demonstrieren – doch in der Wahlnacht alles gespenstisch ruhig bleibt und höchstens alle fünf Minuten ein Kleinwagen mit Argentiniens Flagge über die Plaza de Mayo rumpelt.
Wo die Geldentwertung 300 Prozent erreicht hat und das Land nun von einem Mann regiert wird, der früher in einer Rolling-Stones-Cover-Band gespielt hat. Wo dieser Kampfhund der Reaktion vor allem von den gut ausgebildeten Jungen und von den Ärmsten gewählt worden ist: Alles besser als die endlose Korruptionsmaschine rund um die als links geltenden Peronisten.
Aber ich wollte ja eigentlich die Villa 31 am Bahnhof von Buenos Aires als Metapher aufbauen: Dass sich unfassbar reiche Menschen und unfassbar arme Menschen abends gegenseitig in die Fensterlöcher starren können. Argentiniens Oberschicht in den Hochhäusern um Retiro und der bettelnde, kleinkriminelle Abschaum einen Steinwurf weiter Richtung Bahnhof. Wir und Südamerika, Auge in Auge, wenn man so will. Blind füreinander.
Eine Diskografie mit mehr als hundert Einträgen
Deutschland kennt man hier vor allem der Toten Hosen wegen; allein die Tatsache, dass ich im selben Hotel wohne wie einst die Pantalones, nötigt Gesprächspartnern Anerkennung ab, als sei es ein Beweis der Völkerfreundschaft. Und als ich erwähne, dass ich abends ein Bier trinken gehen werde mit Alan Courtis, zeitigt dies einen spitzen Schrei: „Der von Reynols?“ Genau der!
Wobei ich von der Band Reynols bis vor ein paar Wochen ebenfalls noch nie gehört habe und von Alan Courtis auch nicht, obwohl ich dann im Internet eine Diskografie mit mehr als hundert Einträgen finde, Alben auf Vinyl, CDs, Kassetten, veröffentlicht von kleinen und kleinsten Labels auf der ganzen Welt. Dass in der Mixtur aus Schweinerock, Cumbia und viel schrecklichem R&B, die den öffentlichen, akustischen Raum in Buenos Aires beherrschen, einer wie Alan Courtis, drei wie Reynols einen so prominenten Platz einnehmen, ist kaum zu erklären.
Also versuche ich es: Die Gitarristen Alan Courtis und Roberto Conlazo jobben Anfang der 1990er an einer staatlichen Musikschule, um so ein wenig finanzielle Sicherheit in ihr Leben zu bringen, bevor sie Rockstars würden und dies alles nicht mehr nötig hätten. Da taucht ein Junge mit Drumsticks an der Schule auf, die er aus seinem alten Kinderbett herausgebrochen hat, Miguel Tomasín, und will Unterricht. Ist ja schließlich eine Musikschule. Aber niemand will ihn unterrichten. Miguel ist ein Downie, also bitte. Auch Alan und Roberto mögen gezögert haben, bekamen aber von Miguel mitgeteilt, sie seien jetzt in seiner Band. Und das sind sie bis zum heutigen Tag.
Miguel Tomasín hat das Verhältnis der beiden semiprofessionellen Musiker zu ihrem Tun grundlegend herausgefordert, verändert, umprogrammiert. Mit unzähmbarem Größenwahn hat er das Selbstverständnis der aufstrebenden Rocker und Versuchsavantgardisten auf ein Level gebracht, auf dem Sinfonien für 10.000 Hühner möglich wurden, Konzerte, bei denen das Publikum gespielt worden ist oder der Eiffelturm; immaterielle Schallplatten wurden veröffentlicht und über Jahre eine kreative Beziehung mit der US-New-Age-Größe Pauline Oliveros etabliert.
Das alles klingt nach einer Art Berühmtheit à la Residents, also Big in Obskuristan, aber nachdem es die anfangs Burt Reynolds Ensembla genannte Combo fast wöchentlich ins argentinische Fernsehen geschafft hatte, waren sie lange eine südamerikaweit bekannte Institution.
Die immer wieder aufflackernde Flamme
Allein die Tatsache, dass Miguel nur mit der Mama reist und deswegen keine richtigen Tourneen in Frage kommen, und dass er samt Mama seit geraumer Zeit im Süden Argentiniens lebt, hat eine veritable Pop-Karriere verhindert. Burt und das d und das Ensembla sind verschwunden, da waren ein paar US-Rechtsanwälte not amused, geblieben ist Reynols als immer wieder aufflackernde Flamme eines unauslöschlichen Verlangens nach individuellem Ausdruck.
Miguel Tomasín, und das sind die beiden grundlegenden Missverständnisse, wenn es um Reynols geht, ist erstens nicht der Schlagzeuger in einem Inklusionsprojekt. Und zweitens ist die Musik von Reynols keinesfalls Punk. Vielmehr hat Miguel zwei fähige Mitstreiter gefunden, die einen ausführlicheren, genaueren Blick in sein Seelenleben ermöglichen, ohne sich zwischen ihn und seine Leistung zu drängeln.
Reynols: „Peloto Cabras Mulusa Olve“ (Calar Music);
Reynols & Pauline Oliveros: „Half a Dove in New York, Half a Dove in Buenos Aires“ (Smalltown Supersound/Rough Trade)
Reynols & Acid Mothers Temple: „Acid Mother Reynols Volume 1, 2, 3“ (Hive Mind/Cronica Sonora)
In Deutschland sind Reynols-Alben erhältlich bei www.dronerecords.de/ oder www.aufabwegen.de
Sie genießen es, von Miguel in immer neue grandios verrückte Zusammenhänge gedrängt zu werden; sie lieben seinen Nichtgesang und seine erfundenen Textzeilen in fremdartigster, vertrautester Sprache, seine Anleihen bei Bolero und Schlager; sie vertrauen seinem oft rudimentären Spiel, das plötzlich zu einer Expertise finden kann, die einen staunen lässt. Hier ist ein ziemlich ungewöhnliches Schlagzeugtalent am Werk, und ganz gewiss keine One-Two-Three-Four-Notlösung.
Wie die so maximal unterschiedlichen Lebenswelten von Luxusimmobilie und Slum-Wolkenkratzer, so ist auch die Realität von Reynols wohl nur am Rand unseres euro-/US-zentrierten Popverständnisses möglich. Einstürzende Neubauten, in der Tat. Ein exemplarisches Album von Reynols zu empfehlen, einen Rat angesichts der schier uferlosen und auch obskurantischen Diskografie zu geben, ist vermessen. Bei dem Dutzend Alben, das ich inzwischen gehört habe, ist es ohnehin meist so, dass man nie auch nur erahnen kann, was einen auf dem jeweils nächsten Stück erwarten wird.
Kraut-Gedengel, schmalzgebackener Gesang, Drones
Kraut-Gedengel, schmalzgebackener Gesang, Drones, frühe Can oder The Fall? Es ist jedenfalls eine selten gehörte Freiheit, die eine Musik von Reynols antreibt. Und wenn man Glück hat, kann man diesen vorbeijagenden Gott am Schopf packen und sich mitreißen lassen im allerbesten Sinn. Gerade erschienen: „Acid Mothers Reynols Vol. 3“ (Cronica Sonora), die eben dritte LP aus einem Zusammentreffen der Argentinier mit Japans Psychedeliker-Kollektiv Acid Mothers Temple.
Aufgenommen 2017, beglückend ausufernde Jams, so typisch oder untypisch, wie es bei diesen beiden Bands nur zugehen kann. Acid Mothers Temple haben ihre Mütter ja im Namen, daher können sie auch ungehemmt touren: Sie spielen in den nächsten Tagen in München, Hamburg und Schorndorf.
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