: DER UNFALL UND DER FREIE MARKT
VON UDO TIFFERT
Ein grauer, aber warmer Tag. Alle hatten ihr Licht angeschaltet. Ich fuhr auf der B 97 von Spremberg nach Cottbus. Eine Straße mit vielen Geraden, die Idioten einladen, regelrecht ansaugen! Wenn du ohne Schaden an Leib und Karosse in Cottbus-Madlow einrollst, weißt du, dass du dieses Mal noch nicht dran warst.
Ich war noch nicht einmal am Schäferberg. „O, der da von vorn, der wird doch nicht noch überholen woll …!“ Doch, wollte er, und tat es. Und schon sah ich seine Scheinwerfer dicht vor mir, bewegte instinktiv mein Lenkrad ein Stück nach rechts. Er erwischte mich aber noch am Heck. Ich kreiselte also drei-, viermal um die Achse und kam dann schräg im Straßengraben zum Stillstand. Und das weiße Licht war nicht der Tod und keine Jungfrau, sondern der Airbag.
Mir war klar, dass Körper, Geist und Seele nun gut zu tun haben würden. Also griff ich nach der Wasserflasche in der Autotür. Alles muss fließen können. Ich trank die Flasche aus, bewegte Finger und Zehen. Ich fasste meine Nase an. Das ging gut.
Drei Hubschrauber und zwei Polizeiwagen näherten sich. Der europaweite Wettbewerb würde die Qualität der Leistungen für den Verbraucher, für die Menschen da draußen signifikant verbessern! Die spanische, niederländische, deutsche und moldawische Polizei boten mir an, den Unfall aufzunehmen. Ich nahm die deutsche, obwohl die Spanier schönere Hüte trugen.
Ich sollte aus acht Krankenwagen wählen. Ein nassforscher Johanniter griff nach mir, aber einer vom Roten Kreuz schlug ihm den Arm weg. Das lenkte beide ab, so dass mich zwei französische Sanitäter anhoben und nach Spremberg fuhren.
Auf der Fahrt würfelten sie das Krankenhaus aus. Durchs Heckfenster lugten tapfere Kiefern herein, denen eine Spatentiefe Sand zum Dasein reichte. Bei der Ankunft erwarteten mich dreißig Krankenschwestern aus Polen, Luxemburg und Dänemark. Bei den Köchen nahm ich die Italienerin und bestellte mir eine Minestrone.
Der freie Markt zwang einen zu vielen Entscheidungen, aber dadurch bekam man stets das Beste! Der Markt regelte das. Nach der Suppe und einigen Tests verließ ich das Krankenhaus. Die deutsche Polizei sandte mir Werbung aufs Phone, fragte, ob ich mit der Unfallbetreuung zufrieden sei und ob ich sie für „9.000 Cash, Crash & Fun-Punkte“ künftigen Unfallteilnehmern empfehlen würde?
Das Himmelgrau riss auf. Ich lief den Georgenberg zum Bahnhof Spremberg hinauf und bekam Zweifel über den freien Markt. War das eine Unfallfolge?
So saß ich am Bahnhof, sah über Gleise, aus denen sich die Goldrute, kleine Birken und Ahornbäume erhoben. Ich war hier aus dem Zug gestiegen. Warum? Ich besaß gar kein Auto. Die Frau vom Fahrkarten-Ticket-Service-Dingens brachte mir Wasser. „Der klappt mir doch hier ab“, sprach sie vor sich hin.
Sie war sehr dick und nahm viel Sonne weg, als sie vor mir stand. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. Ich trank vom angebotenen Wasser. Dann fiel ich vornüber an ihren weichen Bauch. Sie kraulte mir einige Minuten lang die letzten paar Haarwurzeln.
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