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„Jeden verdammten Sonntag“

JUBILÄUM Vor 20 Jahren gründete sich in Berlin eine Lesebühne mit einem Namen wie ein Schrebergartenverein. Seither will die Reformbühne Heim & Welt den Kapitalismus überwinden – Und ist dennoch aufgestiegen

Die Jubelwochen in der Panorama-Lounge

1995 ging es los. Mehr als tausend Mal trat die Reformbühne Heim & Welt seither an jedem Sonntag gemeinsam mit Gästen ans Mikrofon, um frisch verfertigte Texte und Lieder feilzubieten. Die Auftrittsorte haben gewechselt, vom Schokoladen ins Kaffee Burger, dann der Aufstieg in die spektakuläre Panorama-Lounge über den Dächern der Stadt. Im Juni werden mit Reflexionen über den Sinn des Lebens und herzergreifenden Liedern Steine zum Sprechen und Tiere zum Platzen gebracht – und ausgiebig gefeiert. Dazu haben sie ehemalige Mitstreiter und ihre musikalischen Begleiter noch einmal auf die Bühne geladen. Immer sonntags, 20.15 Uhr, Tanz-Suite, Panorama-Lounge im Haus Berlin, Strausberger Platz 1, 13. Etage.

■ 7. 6.: Wladimir Kaminer, Manfred Maurenbrecher / 14. 6.: Sarah Schmidt, Danny Dziuk / 21. 6.: Daniela Böhle, Sebastian Krämer /28. 6.: Bov Bjerg, Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot, www.reformbuehne.de

VON CATARINA VON WEDEMEYER

Reform heißt die Reformbühne Heim & Welt, weil in den Neunzigern alles Reform hieß. An solchen Antworten merkt man: Die Autoren beherrschen die Ironie so weit, dass sie Seminare dazu geben könnten. Unter anderem wollen sie den Zwang zur Lohnarbeit abschaffen. Deswegen erfinden sie Aktionen wie das „Verschenken gegen Kapitalismus“, oder lesen Texte wie den „Fluch“ des 2007 verstorbenen Ex-Lesebühnenmitglieds und Mitbegründers Michael Stein: „Arbeit! Geißel der Menschheit! / Verflucht seist du bis ans Ende aller Tage! / Du, die du uns Elend bringst und Not / uns zu Krüppeln machst und zu Idioten / uns schlechte Laune schaffst und unnütz Zwietracht säst / uns den Tag raubst und die Nacht / verflucht seist du / verflucht / in Ewigkeit / Amen.“

Solche Gebete, als Wechselgesang mit dem Publikum vorgetragen, klingen nach protestantischer Kindheit, Schafherdenpotenzial, viel Gehorsam und Fleiß. Und genau mit diesen Klischees spielen die Männer, sie schreiben über Kartoffeln, über ihre ost- oder auch westdeutsche Herkunft, und der Bühnenbeiname Heim & Welt klingt ganz absichtlich nach einem Schrebergartenverein.

Momentan besteht die Reformbühne tatsächlich nur aus Männern. Jürgen Witte war 1995 bei der Gründung live dabei, Ahne kam zwei Monate später dazu. Damals war er 26 und hieß Arne Seidel. Gemeinsam mit Uli Hannemann, Jakob Hein, Falko Hennig und Heiko Werning lesen sie seit 20 Jahren jeden „verdammten“ Sonntag auf der Bühne, manchmal singen sie und zum Jubiläum backen sie sogar Kuchen.

Uli Hannemann und Ahne hängen in der Schwarzen Pumpe, dem einzig fashionfreien Laden im Prenzlauer Berg. Sie erzählen: Als die Reformbühne sich in den Neunzigern selbst ins Leben rief, gab es das Konzept Lesebühne kaum. Damals schwangen sie populistische Reden, jonglierten und zauberten, heute musste all dies dem „perfekten Showcharakter“ weichen. Ahne trinkt den zweiten Kaffee, Hannemann arbeitet an der Apfelsaftschorle. Damit es nicht zu orthodox wird, laden die Autoren jeden Sonntag Gäste ein, und Reptilienforscher Heiko Werning bringt dann mal seine dressierten Fauchschaben mit. Er friert sie ein bisschen ein, um sie zu lähmen – so übernehmen sie nicht gleich die Weltherrschaft.

Ahnes Koteletten und seine Hausbesetzervergangenheit erinnern an die Neunziger, aber davon wollen die Autoren heute nichts wissen. „Irgendwie waren die Neunziger doch schlimm“, sagt Hannemann langsam. Ahne erklärt: das heißt bei Uli nichts, der findet alles schlimm, außer seine Freundin Ulla. Sie heißt wirklich so.

Zweimal ist die Lesebühne umgezogen: vom Schokoladen ins Kaffee Burger und dann in die Panorama-Lounge am Strausberger Platz. „Wir sind aufgestiegen“, schreiben die Autoren, die Lounge befindet sich im 13. Stock.

Die meisten der Bühnenhelden sind Autodidakten, das erklärt den defensiven Umgang mit dem Job. Die studierten Germanisten korrigieren bei den anderen die Kommata, meint Hannemann, aber Ahne winkt ab: der kokettiert gern mit dem Arbeiterimage. Die Frage, ob sie vom Schreiben leben können, hören sie oft. „Nein, aber ich tu’s trotzdem“, antwortet Hannemann in solchen Fällen stolz. Dann erklärt er: Manche Autoren sind Vollprofis, manche, wie der Psychiater Jakob Hein, sind Multitasker, manche kriegen Hartz IV. „Sag‘s doch, wie’s ist“, sagt Ahne, „die meisten von uns haben Frauen, die ‚was Richtiges‘ arbeiten.“

Die Männer, sie schreiben über Kartoffeln, über ihre ost- oder auch westdeutsche Herkunft …

Fehlen die Frauen deswegen im Lesebühnengeschäft? Weil sie die Familie ernähren müssen? Die beiden Autoren klappern alle möglichen Gründe ab, unter anderem das übersteigerte Selbstbewusstsein des Mannes an sich. Ironie ohne Grenzen. Dann werden sie wieder ernst: „Frauen kriegen Kinder“, sagt Hannemann, „Männer kriegen ooch Kinder!“, sagt Ahne. Irgendwann meint er: „Wir sind halt Arschlöcher“, und Hannemann ergänzt: „Arschlöcher auf eine gute Art.“ Immerhin ist das Publikum gemischt, anders als beim Fußball.

Jeder der Autoren macht neben der Bühne sein eigenes Ding. Sie bloggen, reden im Radio, schreiben Kolumnen oder betreiben Partys, wie das ehemalige Reformbühnenmitglied Wladimir Kaminer. Bücher publizieren sie sowohl einzeln als auch gemeinsam. Hannemann schreibt gern über Neukölln, Ahne redet viel mit Gott. Da Gott stark berlinert, gibt es das Ganze auch auf CD. Auf der Reformbühne sollen die Texte beides sein, leicht und inhaltsvoll. „Einen Unterschied zwischen E und U, sowas gibt‘s doch nur in Deutschland“, sagt Ahne dann noch.

Für den Jubiläumsmonat verkauft die Reformbühne übrigens Viererkarten. Das sei, wie wenn ein Dealer billiges Heroin auf dem Schulhof verkaufe, meint Hannemann. Wenn der Effekt der gleiche ist, dann müsste es doch passen. Schließlich kann Alphabetisierung wirklich süchtig machen.

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