piwik no script img

Getanzte Inklusion

JUBILÄUM Beim Projekt „Die Anderen“ am Tanzwerk Bremen tanzen junge Leute mit und ohne Beeinträchtigung miteinander. Jetzt feiern sie zehnjähriges Jubiläum

„Warum sitzt im Supermarkt kein Mensch mit Beeinträchtigung hinter der Kasse?“

INGA BECKER, GRÜNDERIN DES PROJEKTS „DIE ANDEREN“ AM TANZWERK BREMEN

VON ANDREAS SCHNELL

Inklusion: Das ist eines dieser Schlagworte, die in allerlei Kontexten die Runde machen, von der Schule bis zur Kunst. Gerade eben gab es am Theater Bremen das „Mittenmang“-Festival für inklusives Theater. Und an Bremer Schulen lief mit viel Getöse das Projekt Inklusion im Unterricht an. „Seit Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes 2009 haben sich die Bremer Schulen auf den Weg der inklusiven Beschulung begeben“, heißt es etwas steif auf der Seite der Bildungssenatorin. Pädagogen klagen derweil über Personalmangel und Defizite bei der Ausbildung.

Beim Projekt „Die Anderen“ am Tanzwerk Bremen scheinen solche Probleme weit weg. Seit zehn Jahren tanzen hier junge Leute mit und ohne Beeinträchtigung miteinander. Wobei Inga Becker, die das Projekt gegründet hat, meint, dass wir ohnehin alle Beeinträchtigungen haben. Während der Proben bittet sie ihre Teilnehmer, etwas ruhiger zu sein, damit sie sie besser verstehen kann. Sie höre auf einem Ohr nicht richtig. „Ich hab auch so meine Beeinträchtigung“, sagt sie. Die Tanzpädagogin betreut seit 15 Jahren Jugendliche am Tanzwerk. Als sie von Eltern angesprochen wurde, ob es nicht eine Möglichkeit für Kinder mit Beeinträchtigung gebe, mit anderen Kindern zusammen zu tanzen, war sie sofort begeistert.

Eineinhalb Jahre dauerte es dann, bis die Aktion Mensch entsprechende Mittel für die ersten Projekte bewilligte, später kamen weitere Sponsoren dazu. In den vergangenen Jahren sind so vier Tanzproduktionen entstanden, die jetzt zu einer neuen verknüpft werden. Auch das ein inklusiver Gedanke, nicht nur künstlerisch. Denn von den rund 150 Kindern und Jugendlichen, die im Laufe der letzten zehn Jahre mitgetanzt haben, sind viele geblieben, einige sind seit 2005 dabei; derzeit sind es insgesamt rund 50 Teilnehmer. Seit einem Jahr proben sie für die Jubiläumsinszenierung, vierzehn Stunden im Monat. Daraus ist ein Zusammenschnitt entstanden, der auch die Vielseitigkeit der Truppe zeigt: Zwischen märchenhaften Szenen und den düsteren Bildern des Stücks „Erdöl“ spannt sich der stilistische Bogen.

Aber natürlich geschieht bei alledem mehr als die Arbeit an den Choreografien: Es geht eben nicht zuletzt um Begegnung. Die 17-jährige Fiona zum Beispiel, seit zwei Jahren dabei, möchte das gemeinsame Tanzen nicht mehr missen. Die junge Frau mit Down-Syndrom bezeichnet Tanz als Lebensgefühl und ihre Leidenschaft, Freundschaften haben sich in dieser Zeit entwickelt. „Ich will auf jeden Fall weitermachen“, sagt sie. Wenn man bei den Proben zuschaut, überträgt sich diese Freude unmittelbar.

Wichtig ist Becker dabei, dass die Kinder und Jugendlichen möglichst viel von sich selbst einbringen. Deswegen laufen die Projekte in der Regel über drei Jahre. „Im ersten Jahr wird vor allem geforscht und ausprobiert, im zweiten Jahr wird dann ein Stück entwickelt, das im dritten Jahr zur Aufführung gebracht wird“, schildert Becker den Ablauf. Und nicht nur das Publikum nahm die Ergebnisse begeistert auf. Mehrere Preise wie den Förderpreis der „Start Jugend Kunst Stiftung Bremen“ und den ersten Preis der Weserterrassen-Stiftung konnte das Projekt bereits entgegennehmen.

Aber Becker weiß, dass es weitergehen muss. Nicht einfach weiter wie bisher. „Es soll hinausgehen“, in die Stadt, in die Gesellschaft. Denn gemeinsam zu tanzen ist gut. Aber die gesellschaftliche Wirkung ist begrenzt. Weshalb es in den nächsten Jahren in den Stadtteil hinausgehen soll: Das Tanzwerk liegt inmitten des Viertels, das sich bekanntlich gern als weltoffen und tolerant versteht. „Aber warum sitzt hier im Supermarkt zum Beispiel kein Mensch mit Beeinträchtigung hinter der Kasse?“

Sie will deswegen in Betriebe und Geschäfte gehen, Performances in der Arbeitswelt zeigen, die Menschen mit Beeinträchtigung sichtbar machen. Und vielleicht ergeben sich daraus ja auch ganz konkret berufliche Perspektiven für die jungen Leute mit Handicap. „Mensch, mach dir Platz!“, heißt das Projekt, das im Juli beginnt.

4. Juli: Kennenlern-Workshop,

Anmeldung:

info@tanzwerk-bremen.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen