piwik no script img

Denken in Fragmenten

EXPERIMENTELL George Perec wollte ergründen, wie Erinnerung funktioniert und verzichtete dafür schon mal ein Buch lang auf den Buchstaben E. Jetzt wird der Autor wiederentdeckt

VON ROBERT MATTHIES

Unvollendet geblieben ist Georges Perec’ Memoiren-Projekt. 1982, kurz vor seinem 46. Geburtstag, starb der französische Schriftsteller und Filmemacher an Lungenkrebs. Zuvor hatte Perec noch einen Text veröffentlicht, der sich damit auseinandersetzt, dass die Lust, Kontrolle ins eigene Leben zu bringen, und der Verlust der Kontrolle einander bedingen.

Wenn das Denken der Welt auf den Grund gehen wolle, gebe es nur vor, etwas ordnen zu wollen. In Wahrheit vollziehe es „sich nur zersplitternd, verzettelnd und unaufhörlich auf die Fragmentierung zurückkommend“, schreibt Perec in „Penser/Classer“ – „Denken/Ordnen“. Alles, was zum Vorschein komme, gehöre „völlig in den Bereich des Verschwommenen, des Unentschlossenen, des Flüchtigen, des Unvollendeten“.

Dass die Erinnerung an das eigene Leben sich nicht an Anhaltspunkte oder Spuren hefte, sondern etwas „Ungestaltes“ und kaum Sagbares zum Gegenstand habe, hat Perec bereits Ende der 1960er-Jahre in seinem zweiten Roman „Ein Mann, der schläft“ zum Thema gemacht. Darin will sich ein depressiver Soziologiestudent aller Dinge entwöhnen, will ein zeitloses Pflanzenleben leben. Eine Verweigerung, die einen autobiografischen Hintergrund hat: Auch Perec litt als 20-Jähriger an einer Depression, fühlte, dass in ihm etwas zerbrochen war.

Die eigene Identität als Bruch zu erleben, ist in Perec’ Fall untrennbar mit der Erfahrung verbunden, Jude zu sein. So sagte er es einmal. 1936 als einziger Sohn polnischer Juden in Paris geboren, überlebte er versteckt auf einem Bauernhof. Sein Vater fiel 1940 als französischer Soldat, seine Mutter wurde 1943 von den Deutschen verschleppt und vermutlich in Auschwitz ermordet.

Bekannt geworden ist Perec vor allem, nachdem er 1967 in die „Werkstatt für potentielle Literatur“ (Oulipo) aufgenommen worden war: Ein Autorenkreis, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Sprache zu erweitern, indem der Schreibende sich formalen Zwängen unterwirft. Perec führte diese Spracherweiterung durch Selbstbeschränkung beispielhaft vor: Sein Roman „La Disparition“ enthält kein einziges Mal den Buchstaben E und in „Les Revenentes“ wiederum kommt kein anderer Vokal als das E vor.

Hierzulande lange unbekannt, wird Perec nun wiederentdeckt. Seit 2012 erscheinen jedes Jahr zwei Bücher im Diaphanes-Verlag. Es geht dabei nicht nur um Perec als experimentellen Olipoten, sondern auch um Perec als Autor, dessen Werk um Fragen des Biografischen und der Erinnerung kreist.

In Hamburg kann man Perec am Sonntag entdecken. Olaf Kistenmacher, Thomas Ebermann und der Thalia-Schauspieler Jörg Pohl stellen ihn dort unter dem Titel „Montage und Erinnerung“ vor. Im Zentrum steht dessen 1975 erschienene Autobiografie „W oder die Kindheitserinnerung“, die Erinnerung an die Kindheit mit einer grausamen Phantasie verknüpft. Nach einem Einblick in Perec’ Werk lesen Pohl und der Schauspieler Denis Moschitto daraus szenisch Auszüge. Nicht der letzte Hinweis darauf, dass Perec im nächsten Jahr mit etwas Glück ein ganzes Theaterstück gewidmet wird.

■ So, 3. Mai, 20 Uhr, Golem

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen