NACHTS NACH HAUSE: Dunkle Gesellen
Nach einer Geburtstagsfeier in Friedrichshain mache ich mich gegen zwei Uhr auf den Weg Richtung Wedding. Normalerweise versuche ich den Alexanderplatz weiträumig zu umfahren und die U 8 zu meiden, aber jetzt ist es nachts und diese Strecke am kürzesten. Auf dem Weg von Mitte gen Norden tauscht das U-Bahn-Publikum sich langsam aus. Die Touristen steigen spätestens an der Bernauer Straße aus und machen Platz für die Bewohner von Gesundbrunnen.
An der Voltastraße steigen zwei Männer ein. Einer der beiden trägt eine schwarze Bomberjacke mit Drachenaufdruck, dazu einen Pferdeschwanz und zwei tätowierte Tränen am Auge, der andere Glatze, Armeehose, Springerstiefel. Er hat einen Rottweiler an der Leine.
Ich kann die Männer nicht verstehen, aber sie scheinen wild aufeinander einzureden. Als sie am Gesundbrunnen nicht aussteigen, ahne ich schon, dass wir denselben Weg haben. An der Pankstraße steigen sie tatsächlich aus. Ich folge ihnen in sicherem Abstand auf ihrem Weg in die Badstraße, der leider auch der meine ist.
Sie gehen sehr langsam, spucken auf den Boden und scheinen sich zu streiten. Etwa zehn Meter vor meinem Hauseingang bleiben sie stehen und diskutieren wild. Ich sehe mich um, ich bin allein. Mir bleibt keine Wahl: Wenn ich nach Hause will, muss ich an ihnen vorbei. Ich sammle all meinen Mut zusammen und gehe auf die Männer zu. In Gedanken sehe ich mich schon aufgeknüpft am nächsten Baum und meine Mutter weinend an meinem Grab. Zitternd gehe ich an den Männern vorbei, aber sie scheinen mich kaum zu bemerken. Nicht mal der Hund interessiert sich für mich. Kurz bevor ich den Schlüssel ins rettende Schloss schieben kann, höre ich den Grund ihrer Diskussion. Der Pferdeschwanz sagt zu der Glatze: „Alter, du musst echt auch mal ’nen Apfel essen, Vitamine sind wichtig!“ SARAH HANNS
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