LESERINNENBRIEFE :
Wenig bekanntes NS-Kapitel
■ betr.: „Vor dem Vergessen bewahrt“, taz vom 29. 10. 14
Dank an Herrn Schneider und Frau Haubenreisser, die die Wahrheit über die Vergangenheit der Psychiatrie Mainkofen ans Licht gebracht haben. Ein ebenfalls wenig bekanntes NS-Kapitel ist die Kindereuthanasie. Ernst Klee hat in seinem Buch „Euthanasie im NS-Staat“ (1983) detailliert darüber berichtet. 10.000 Kinder, die man für eine „Belastung des gesunden Volkskörpers“ hielt, wurden ab 1939 ermordet. Die Abläufe waren säuberlich in Paragrafen verpackt, hinter einem pseudowissenschaftlichen Vorhang wurden Hebammen und Ärzte per Runderlass zu Mittäter_innen gemacht, indem man sie verpflichtete, „verdächtige“ Kinder zu melden. Drei Gutachter des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ entschieden im Umlaufverfahren, ob die gemeldeten Kinder einer „Kinderfachabteilung“ zur speziellen Behandlung zuzuweisen seien, ohne die Kinder oder auch nur eine Akte gesehen zu haben.
Es gab 30 derartige Abteilungen, die von 1939 bis 1942 eingerichtet wurden. Dort töteten Ärzte, Schwestern und Pfleger die mit Bussen der Gekrat („Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“) angelieferten Kinder auf subtile Weise. Häufig verwendete man Luminal, ein starkes Beruhigungsmittel, das nur langsam ausgeschieden wird: Bei wiederholter Gabe akkumuliert die Substanz in allen Organen, die Kinder schlafen, können nicht mehr abhusten und entwickeln deshalb bald eine Pneumonie, die dann zur scheinbar natürlichen Todesursache gemacht wurde. Noch einfacher war es, die Kinder mit einer unterkalorischen „Diät“ langsam verhungern zu lassen. Viele der Mörder im weißen Kittel setzten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre berufliche Karriere fort. So war Prof. Werner Catel, der als Reichsausschussgutachter am Schreibtisch seine Todeskreuzchen gemacht hatte, bis 1960 Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universität Kiel. WINFRID EISENBERG, Herford
Bibel übertrifft locker den Koran
■ betr.: „Muslim beleidigt, weil Koran zitiert wird“, taz v. 28. 10. 14
Ich habe den Koran vielleicht gut zur Hälfte und größere Teile der Bibel gelesen. Da muss man doch zur Ehrenrettung des Alten Testaments sagen: Das ist aber locker viel gewalttätiger als der Koran! Ein paar Ungläubige erschlagen ist doch nichts! Im Alten Testament wird den Kriegern von Gott der Kopf gewaschen, weil sie nicht auch die Frauen und Kinder des Feindes umgebracht hatten (4. Mose 31,14 ff). In der Geschichte von Lot wird es als tugendhaft geschildert, dass er der johlenden Menge seine Töchter (statt der ihn gerade besuchenden Engel) zur Vergewaltigung anbietet. Eine charmante Sammlung zum Weiterlesen hat Richard Dawkins in Kapitel 7 seines Buchs „Gotteswahn“ zusammengestellt. Sorry, Deniz Yüczel, das Alte Testament schlägt der Koran da nie und nimmer. Und was Dummheit oder Abstrusität betrifft – da gewinnt auch das gute Alte Testament – allerdings auch mit viel mehr Seiten. SILKE KARCHER, Berlin
Sehr politische Studierende
■ betr.: „Zufrieden, strebsam, unpolitisch“, taz vom 29. 10. 14
Das politische Interesse, so sagt die AG Hochschulforschung Konstanz in ihrem verdienstvollen Studierenden-Survey, sei bei den deutschen Studierenden „auf einem Tiefpunkt“ (seit 1983).
Ich führe seit 40 Jahren mit Studierenden der Ingenieurwissenschaften an der TU Berlin, seit 6 Jahren auch an der TU Hamburg-Harburg, mit großer Nachfrage Seminare zu hochpolitischen Themen durch: Berufssituation, Interessenvertretung und Verantwortung von IngenieurInnen, Technikentwicklung und Ökonomie, soziale und ökologische Transformation etc. In diesen Lehrveranstaltungen erlebe ich sehr politische Studierende: Sie stellen das herrschende Wirtschafts- und damit auch Gesellschaftssystem immer mehr in Frage und suchen in ihren Beiträgen zum Seminar radikale Alternativen für die Technikentwicklung: Kooperation statt Konkurrenz, zum Beispiel durch Open-Source-Ingenieurarbeit, sozial und ökologisch angepasste „konviviale“ (Ivan Illich) Technologien statt Raubtechnik, solidarische Ökonomien wie Genossenschaften oder soziale Unternehmen statt kapitalistischer Verschleißwirtschaft und Renditewahn etc. Und dafür engagieren sie sich, was nicht zuletzt das seit 6 Jahren laufende und wachsende Projekt „Blue Engineer“ an der TU Berlin und der TU Harburg zeigt.
Sie versuchen sich also vorzubereiten für eine Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft von unten. Für sie ist nur die klassische Politik erledigt, weil sie die Demokratie dieser Wirtschaftsform nahezu vollständig unterwirft und darauf auch noch stolz ist. Sie haben die Erfahrungen mit den völlig erfolglosen Demos gegen die Bologna-Deformation des Studiums verarbeitet und probieren diese Form von „Revolte“ deshalb gar nicht mehr erst. Ihre Studienstrategie unterläuft die Absichten der Studienordnungen ebenso wie zu Diplomzeiten: Sie praktizieren halt das Bulimie-Lernen, zeitlich und im geistigen Aufwand optimiert (das habt ihr mit „strebsam“ bezeichnet); gleichzeitig arbeiten sie zu einem hohen Prozentsatz (ca. 50 Prozent) fachlich einschlägig (an den Hochschulen als TutorInnen, in der Industrie als Werkstudierende), holen sich dort die wichtigsten Qualifikationen und interessieren sich sogar stark für gewerkschaftliche Interessenvertretung. Sie stehen also – anders als noch vor 30 Jahren – mitten im Leben und sehen die Uni nicht mehr als Lebensmittelpunkt oder soziale Heimat. Das ist zwar schade, aber realistisch angesichts der neoliberalen Ökonomisierung an den Hochschulen. Folglich engagieren sie sich nicht mehr in der klassischen Hochschulpolitik. Diese Minderheit politisch sehr bewusster bzw. Engagement (wieder) lernender Studierender sucht sich heute die oben angeführten „Graswurzel-Aktivitäten“. WOLFGANG NEEF, Berlin
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