: Die urbane Seite des Schriftstellers
GÜNTER GRASS IST TOT
Anfang der Woche, am Montag, als Günter Grass starb, wurde es in Berlin ja endgültig Frühling.
Ein Abend in Friedenau, umgehen von liebevoll hergerichteten Balkonen und Vorgärten. Die Häuser ein Stockwerk niedriger als sonst in Westberlin, die Straßen etwas enger, schöne, gepflegte Plätze. Stellenweise fast schon dörflich. An einer Ecke stehen Tische draußen. Es gibt Rosé, Brot und Meerrettichcreme. Schwere Idylle-Anmutung.
Hier um die Ecke hat Günter Grass gelebt, von 1963 bis 1996, mit Unterbrechungen. Von Paris kommend, wo er die „Blechtrommel“ geschrieben hat, ist er 1960 nach Westberlin gezogen. Erst in die Karlsbader Straße in Schmargendorf. Dann, als die Wohnung seiner Kinder wegen zu klein wurde, hat er sich in Friedenau, Niedstraße 13, das Haus gekauft, bei dem man, wenn man heute davorsteht, sofort an die Villa Kunterbunt denken muss. Ein alleinstehendes Haus zwischen Etagenhäusern, verwinkelt, verklinkert, mit einem wucherndem Garten davor. „Hat es sogar äußerst billig gekriegt, weil gleich nachem Mauerbau die Grundstückpreise im Keller … ‚Ist ein Schnäppchen gewesen‘, hat er später gesagt.“ So steht es in Grass’ spätem autobiografischen Buch „Die Box“, in dem er auch von seiner Berliner Zeit erzählt.
Berlin war damals Frontstadt, Mauerstadt, Schaufenster des Westens – und Friedenau war darin die Schriftstellerkolonie. Uwe Johnson hat in der Niedstraße 14 gewohnt, also gleich nebenan, Hans Magnus Enzensberger auch nicht weit, Max Frisch um die Ecke in der Sarrazinstraße, in seinem „Berliner Tagebuch“, das kürzlich erschienen ist, hat Frisch auch von Abenden mit Grass geschrieben. Man besuchte sich gegenseitig, es wurde gegessen, getrunken, gestritten. Und Grass, ganz dem Leben zugetaner barocker Sinnenmensch, muss immer der Lauteste gewesen sein.
Auch das klingt idyllisch. Tatsächlich herrschte aber „Kuddelmuddel“, wie Grass in der „Box“ leitmotivisch schreibt. Willy Brandt, 68 – von Friedenau zum Ku’damm, wo Rudi Dutschke niedergeschossen wurde, sind es grade mal drei Kilometer Luftlinie. Und zu Hause quirliges Familientreiben, Fisch einkaufen auf dem Friedenauer Wochenmarkt, aber auch Liebesdurcheinander und Trennung.
Ein pralles Leben, halb Boheme, halb Großfamilie. In „Die Box“ taucht neben dem Blechtrommler und dem stets Engagierten noch ein dritter Günter Grass auf: Jemand, der schon früh nach dem guten, lebendigen Leben suchte – wie so viele Menschen dann nach 68 in Westberlin. Diesen urbanen Berliner Grass sollte man auch nicht vergessen. DIRK KNIPPHALS
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