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Wahl-Verwandtschaften

Immer mehr Menschen wollen wissen, ob sie prominente Angehörige haben – vielleicht Brad Pitt?

Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte aber nicht – dieser Determinismus führt bekanntermaßen zu jeder Menge Reibungspotenzial auf Familienfeiern und kann sich gelegentlich bis zum Brudermord auswachsen.

In den USA erreicht die Familienfehde derzeit ganz neue Dimensionen: Sie ist seit Monaten Topthema der internationalen Presse. US-amerikanische Genealogen haben herausgefunden, dass die beiden Kontrahenten um die demokratische Präsidentschaftskandidatur, Barack Obama und Hillary Clinton, auf höchst ungewöhnliche und äußerst illustre Weise verwandt und verschwägert sind: Über das waisenrettende Promi-Pärchen Angelina Jolie und Brad Pitt nämlich. Die beiden Damen sind Cousinen, die Herren Cousins neunten Grades. Über die Verästelung der Stammbäume beider Clans werden wahrscheinlich weder Clinton noch Obama Freudensprünge machen. Normalsterbliche Bürger aber, die nehmen für ein potenzielles, familieninternes Kaffeekränzchen mit Berühmtheiten jeglicher Couleur so einiges auf sich: Die Ahnenforschung boomt – auch in Deutschland.

Gerade Nordamerikaner seien besonders daran interessiert, eine europäische Adelsverwandtschaft festzustellen, weiß Thomas Heldt. Der Genealoge erhält des Öfteren entsprechende Aufträge: „Das hat viel mit Prestige zu tun. In den allermeisten Fällen stellt sich heraus, dass da nichts zu finden ist. Umso größer ist dann oft die Enttäuschung.“

Mitunter treibt die Mischpoken-Recherche abstruse Blüten: Zahllose Internetprovider bieten (oftmals kostenpflichtige) Hilfestellung bei der Ahnenforschung an – und Gewinnchancen auf kuriose Preise wie ein großes Familienfest im Wert von 5.000 Euro.

Auch wenn sich im Netz zahlreiche unseriöse Anbieter tummeln, hat die rasante digitale Entwicklung der letzten zehn Jahre die Ahnenforschung auf der anderen Seite stark vereinfacht: „Sie können ja heute ganze Archive im Internet einsehen und sich dann auch Unterlagen nach Hause schicken lassen – das ist eine enorme Aufwandserleichterung“, so Hermann Metzke, Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände. Der Dachverband hat eine eigene Abteilung, die sich mit dem genealogischen Nutzen von EDV im weitesten Sinne beschäftigt.

Der Einzug der neuen Medien in die lange Tradition der Ahnenforschung trägt auch dazu bei, dass sich heutzutage vermehrt jüngere Menschen diesseits des Rentenalters damit beschäftigen, wer ihre Vorfahren waren.

Einen weiteren Grund nennt Oliver Rösch vom Degener Genealogieverlag: „Junge Menschen fühlen sich heute politisch viel unbelasteter, sie haben keine Angst, eventuell auch unangenehme Wahrheiten über Vorfahren herauszufinden.“ Metzke betont, dass die Genealogie den Missbrauch durch die Nationalsozialisten nicht vergessen hat und gerade deshalb betrieben werden müsse: „Das gehört zur aktiven Geschichtsbewältigung.“

In Deutschland gäbe es auch hin und wieder Menschen, die vermuten, beispielsweise mit Johann Wolfgang von Goethe verwandt zu sein, so Metzke, „doch das stellt sich in den meisten Fällen als nicht haltbar heraus“.

HENDRIK EFERT, NELE JENSCH

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