: Seltsamer Hippie aus der Gruft
David Tibet stammt aus der Grauzone zwischen okkultem Gruftrock und Postindustrial-Sound. Das war einmal. Heute macht seine Band Current 93 Freakfolk und schlägt ihre Kommune für zwei Tage in der Volksbühne auf
Unter dem Banner Current 93 wird eine bunte Truppe an zwei Tagen die Volksbühne heimsuchen. Allein David Tibets Name lässt in diesen präolympischen Zeiten schon aufhorchen. Tibet ist das stehende Zentrum seiner Bandkonstruktion Current 93. Drumherum schart sich eine wilde Ansammlung von Musikern aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen von Neo-Folk bis Indierock. Darunter Andrew WK., der an beiden Abenden den Bass zupfen wird. Vor ein paar Jahren noch galt Andrew WK. als One-Hit-Wonder. Inzwischen ist der Mann in den New Yorker Underground abgetaucht und hat sich einen Namen als cooler Noisemusiker gemacht. Und, man glaubt es kaum, er wird die nächste Platte des in der Schweiz lebenden Reggae-Aliens Lee Perry produzieren.
Wenn David Tibet ruft, dann kommen sie alle: Nick Cave, Björk und Marc Almond haben bereits mit ihm zusammengearbeitet. Dabei war Tibet in den Achtzigern noch ein Fall für Schwarzkittel. Schon damals waren Current 93 eher eine Plattform denn eine Band. Tibet, passionierter Mysteriker, Okkultist, „Edda“-Forscher und Esoteriker, arbeitete mit Musikern ähnlich gelagerter, typisch englischer Projekte zusammen. Mit Steve Stapleton von Nurse With Wound, der dieser Tage bei den Berlinkonzerten als Percussionist und DJ verzeichnet ist, aber auch mit Douglas Pearce von Death In June, dessen provokationsstrategisches Flirten mit Nazismus mit der Zeit immer deutlicher einem Nazi-Budenzauber samt SS-Insignien der geschmackloseren Art wich. Die Verbindung mit Pearce brachte Tibet auch in den Ruch, selbst nicht von einwandfreier Gesinnung zu sein, was aber auch damit zusammenhing, dass der sogenante „Apocalyptic Folk“, dem Current 93 irgendwann zugezählt wurden, insgesamt als nietzscheanisch neuheidnisches Kuriosum der Rechten angesehen wurde.
Die Bande mit Pearce hat Tibet längst aufgelöst. Überhaupt hat er sich völlig neu positioniert. Aus dem Bilderstürmer, dessen poetisch-nerviger Sprechgesang zu schwer verdaulichem Industrial und Geräuschmusik erklang, wurde der Pate des Freakfolk und seiner vermeintlichen Hippie-Wiedergänger. Von Devendra Banhart bis Antony & The Johnsons, dessen Debütalbum auf Tibets Durtro-Label erschienen ist.
Gleichzeitig befeuerte Tibet das neu erwachte Interesse in Hipsterkreisen an Seltsamkeiten des Waldschratfolks, indem er beispielsweise Platten der englischen Sängerin Shirley Collins neu auflegte und auch mit ihr zusammenarbeitete. Aus Tibet, dem Relikt der Achtziger, wurde also, nun ja, eine Art Popstar, dessen immer noch düster versponnene, aber weit eingängiger als damals klingende Musik in einem Atemzug genannt werden kann mit gefeierten Neofolk-Stars wie der Harfinistin Joanna Newsom. Besonders der Freakfaktor in dieser modernen Retro-Bewegung wird ja gerne hervorgehoben. Typen mit Bärten und Frauenkleidern versammeln sich hier genauso wie Transgenderwesen. Daher werden die Berlinkonzerte von Currrent 93 im besten Fall zum regelrechten Anschauungsunterricht werden, zu einer Art Leistungsschau dieser wild verzweigten Szene. Die Transgender-Sängerin Baby Dee wird am Wochenende genauso zu sehen sein wie der Gitarrist Matt Sweeney, der erst vor kurzem mit dem genialischen Kauz Will Oldham gemeinsam eine Platte eingespielt hat. Und so geht es beinahe immer weiter in dieser endlosen Liste an unterschiedlichen Musikern. Wie damals in den Sechzigern die Free-Jazz-Orchester werden alle gemeinsam etwas auf der Bühne anstellen, von dem womöglich nicht einmal David Tibet selbst so genau weiß, was genau es werden wird. ANDREAS HARTMANN
„Current 93“. Volksbühne, am 13. und 14. 4. jeweils ab 21 Uhr
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