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brief aus buenos airesQualm über der Großstadt

Flucht vor dem Rauch in das Shoppingcenter, die surreale Wirklichkeit des Moments übertrifft das gute Kino

Buenos Aires reicht schon vollends, wie es ist. Ein städtischer Moloch, der seine Kinder fast auffrisst, ihre Geduld und Leidensfähigkeit ausreizt. Die Untergrundbahn genügt den Bedürfnissen in keiner Hinsicht, ihre Tunnels sind zudem asbestverseucht. Die überallhin gelangenden Busse – die Colectivos – verpesten die Luft mit ihren schwarzen Dieselfürzen, so dass es eigentlich höchste Zeit wäre, hier einen Maskentrend zu setzen. Man denkt an Bilder aus Asien – Passanten mit Mundschutzen, ob wegen Sars oder Feinstaub.

Dann tut sich ein neues Kapitel auf. Vor etwas über zwei Wochen begann es. Es riecht morgens nach Rauch. „Das sind die Wolken, die tief hängen“, meint der Hauswart des Hauses. Am nächsten Tag bei blauem Himmel riecht es stärker. „Das kommt von einer brennenden Müllhalde am Stadtrand“, erklären mir zwei alte Herren – zwei wie die Mecker-Spezis Statler & Waldorf aus der Muppet Show.

Zwei Tage später erreichen uns bei bereits tränenden Augen und Hustenreiz die Meldungen über 70.000 Hektar brennendes Weideland im Delta des Flusses Paraná nördlich der Stadt. Die Großgrundbesitzer gewinnen so Kulturland, wo sie bestimmt auch noch Soja anbauen werden, weil man durch die internationale Preisbindung damit noch reicher wird.

Europa, Südostasien und China sind unersättlich bei der Nachfrage nach genverändertem Soja als Futtermittel in der Intensivtierzucht. Die Soja-Gier hat das Gleichgewicht der gemischten Landwirtschaft zerstört und gefährdet Argentiniens Versorgung mit Lebensmitteln. Die eingesetzten Herbizide des US-amerikanischen Agrokonzerns Monsanto vergiften die Anwohner der riesigen Anbauflächen, und die Vernichtung der natürlichen Vegetation fördert die Tendenz zu immer mehr Überschwemmungen. Wer das weiß und nun buchstäblich auch noch nach Luft ringt, würde rasend vor Wut – wenn man es sich überhaupt leisten könnte, bei diesen Luftverhältnissen rasend zu werden.

Die Atmung drosseln muss man jetzt und tauchte deshalb gerne ein in die Welt der Filme, die sich hier im April auftat – auf den Leinwänden des Buenos Aires Festival Internacional de Cine Independiente, kurz Bafici. Der Gedanke an Eskapismus, wie ihn möglichst weltfremde Filme des Hollywoods während der Weltwirtschaftskrise zum gewünschten Ziel hatten, lag nicht so fern. Der große Unterschied ist nur der, dass einen beim Bafici traditionellerweise weltnahe Filme erwarten. Doch immerhin ist man fürs Erste aus dem dicksten Rauch ins große Shoppingcenter Abasto geflüchtet, wo im Multiplexkino der Großteil der Filme läuft. Neu daran war die Fluchtrichtung, denn bis dahin ging es doch eher um die Flucht aus einem Shoppingcenter, nicht um die Flucht hinein!

In der riesigen Eingangshalle stieg der Rauch in die Höhe, hunderte von Tischen und Stühlen warteten auf Besetzung. Am Wochenende ist es dort gerammelt voll. „Shopping Mall“ heißen diese Kommerztempel in den USA, und nach denen, die darin herumhängen, ohne zu shoppen, nannte der unabhängige Filmemacher Kevin Smith 1995 seinen Film „Mallrats“.

Die Flucht vor dem Rauch in andere Geschichten gelang bei Filmen aus China, Mexiko, Spanien und den USA. Und die argentinischen? Die Erwartung war groß, weil man wohl immer diesen Versprechen von Innovation aufsitzt, die in jeder zur Bewegung erklärten Tendenz stecken. Doch die Ausbeute der seit rund zehn Jahren mit „Nuevo Cine Argentino“ bezeichneten Filme der neuen Generation ist mager.

Die Dokumentarfilme waren zu Recht die großen Sieger in beiden Wettbewerben. Und dieses eine Mal übertraf die Wirklichkeit des Moments das gute Kino. Als sich an diesem Samstag der ins Kino eingedrungene Rauch mit den Nebellandschaften auf der Leinwand vermischt, wähnte man sich in einer durch und durch surrealen Welt.

FRANZISKA OLIVER

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