: Schlussbilder
Das große Kino von 1968 und die Linse des kleinen Kinos: ein Buch und eine Ausstellung von und mit Hanns Zischler
„1.968 Bilder“, wie sie der Untertitel der aktuellen Ausstellung „Großes Kino, kleines Kino“ in der Kunststiftung Poll verspricht, sind es nicht. Sondern etwa drei Dutzend sorgfältig ausgewählte Fotografien, zumeist im Kleinformat und in Schwarzweiß. Was die meisten der Exponate verbindet, ist das Gesicht oder die Autorschaft des Schauspielers Hanns Zischler, neben Jörg Probst Ko-Kurator der Ausstellung sowie Mitherausgeber des im Merve-Verlag erschienenen gleichnamigen Bandes, der in Ausschnitten den Stand der Filmreflektion und der (nicht nur Kino-)Bilderproduktion der Zeit um 1970 dokumentiert.
Wer aber eine Übersicht über den damals so genannten Jungen Deutschen Film von Wenders bis Fassbinder erwartet oder wenigstens derjenigen Filme, an denen Zischler beteiligt war, wird sich enttäuscht sehen. Der Blick zur Seite, das Fragment bestimmen die Ausstellung: 1968 als „großes Kino“, betrachtet durch die Linse des kleinen. Fotografien, die am Rande von Dreharbeiten entstanden sind, wie eine Aufnahme, auf der Eberswalde im Jahr 1974 aussieht wie eine verlassene Westernstadt: die staubige Straße, die Häuserfassaden, die Weite des Himmels. Oder eine Serie von Astrid Proll, die ihren Bruder Thorwald, Andreas Baader und Gudrun Ensslin entspannt in einem Café in Paris zeigen – Aufnahmen, die in Gesichtern, Gesten und Setting einem Godard-Film der Zeit entstammen könnten, die jedoch die Kaufhaus-Brandstifter von Frankfurt auf der Flucht porträtieren.
Das Gegenstück zur Café-Serie bildet das auffälligste Exponat: ein in drei mal drei Bilder angeordnetes Ensemble vergrößerter Standbilder aus „Blinker“ von Uwe Brandner. Dieser 1969 entstandene Film ist heute weitgehend vergessen, die grobkörnige Qualität der Vergrößerungen, die offensichtlich von einer Videokopie gezogen wurden, lässt vermuten, dass nicht einmal mehr eine Zelluloidkopie existiert. Die Bildmotive lassen das Gerüst einer Handlung erahnen, entscheidend sind Anfangs- und Endpunkt: Das erste Bild zeigt Zischler im Bett mit einer Frau, auf dem letzten Bild liegt er auf dem Rücken, den Mund geöffnet, die Augen geschlossen. Dieselbe Bildfolge im Merve-Band stellt dieses Schlussbild neben die verblüffend ähnliche, sieben Jahre später in Stuttgart-Stammheim entstandene Aufnahme der toten Ulrike Meinhof. So findet „Großes Kino, kleines Kino“ seine Bezüge in den Resonanzen von Film- und Zeitgeschichte, von Dokument und Inszenierung. DIETMAR KAMMERER
„Großes Kino, kleines Kino“ erschien im Merve Verlag, Berlin 2008. Ausstellung: Galerie der Kunststiftung Poll, Gipsstr. 3, Di.–Sa. 15–18 Uhr, bis 31. Juli
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen