: Kein Lärm, kein Arzt, kein Polizist
Die Hallig Langeneß liegt mitten in den Gezeiten – doch schnell fühlt sich der Besucher dort, als läge sie außerhalb von Raum und Zeit
Die zehn deutschen Halligen gruppieren sich kreisförmig um die Insel Pellworm an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins. Die bewirtschafteten Halligen Nordstrandischmoor, Gröde, Oland, Langeneß und Hooge sind vom Schutzgebiet umgeben, aber nicht in dieses integriert. Die kleineren Halligen Habel, Südfall, Süderoog, Norderoog und Hamburger Hallig sind Bestandteil des Nationalparks Wattenmeer. Die 10 bis 956 Hektar großen Halligen sind meist Reste des Festlandes oder von Inseln, die als Überbleibsel des in Sturmfluten untergegangenen Landes stehengeblieben sind – oder sie sind durch Aufschwemmungen der Nordsee entstanden. Die „sichtbare“ Besonderheit einer Hallig besteht darin, dass sie bei starker Flut mit Ausnahme der Warften, den aufgeschütteten Hügeln, auf denen die Häuser stehen, überspült wird („Land unter“). Wattwanderungen und Infos: www.halligen.de; www.wattenmeer-nationalpark.de; www. langeness.de In den Sommermonaten bietet Kapitän Uwe Petersen Ausflugsfahrten mit Seetierfang und Besuch der Seehundbänke mit der „MS Rungholt“ an. Tel.: (0 46 67) 3 67 Fähre: täglich ab Schlüttsiel
VON EDITH KRESTA
An einem sonnigen Sommertag sieht Langeneß aus wie frisch gewaschen. Bunte Blumen wachsen auf den Salzwiesen. Kühe liegen im baum- und strauchlosen Gras. Die wenigen mit Reet gedeckten Häuser stehen auf 18 künstlich aufgeworfenen Hügeln. In der flachen Landschaft wirken die sogenannten „Warften“ wie Maulwurfshügel. Eine schmale Straße ohne Verkehrsschilder, ein Kiosk am einen und ein kleiner Laden am anderen Ende, 108 Einwohner – das ist die Nordsee-Hallig Langeneß.
Es gibt keinen Verkehrslärm, keinen Drogeriemarkt, keine schrille Reklame. Keinen Arzt, keine Polizisten, keinen Bankautomaten. Kein Hund bellt, kein Hahn kräht. Nur die Lachmöwen fliegen über die Besucher hinweg mit ihrem distanzlosen Kreischen, das auch das Lachen der Inselhexe sein könnte.
Schon bei der Ankunft am Anleger wirkt die Stimmung des Ortes. Der Rhythmus verlangsamt sich, die Gedanken werden stetiger. Umspült von den Gezeiten, geprägt von der ewigen Wiederkehr von Ebbe und Flut ist Langeneß, diese langgestreckte, dem Meer abgetrotzte Landmasse, der ideale Ort zum Entschleunigen.
„Schwimmende Träume“ hat Theodor Storm die Halligen genannt. Vor dem Meer ungeschützt liegen die nicht eingedeichten Inseln inmitten des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Ob wolkenloser Sommerhimmel, stürmischer Wind oder unaufhörlicher Regen – der Natur fühlt man sich hier unmittelbar, bei Sturm äußerst bedrohlich ausgesetzt.
Die Fährschiffe laufen täglich von Amrum den Anleger Langeneß an. Hausgäste werden von den Gastgebern mit dem Auto abgeholt. Tagesgäste können mit dem „Halligexpress“, Fahrrädern oder zu Fuß die Hallig erkunden. Fast jede der 18 Warften bietet Gästezimmer an.
Am anderen Ende ist die langgestreckte Hallig seit 1924 durch einen Lorendamm – über Oland – mit dem Festlandhafen Dagebüll verbunden. Fast jeder der Halligbewohner hat seine eigene Lore für Transporte. Eine Dreiviertelstunde braucht man damit bis zum Festland.
Das Ehepaar im einzigen Gasthaus Hilligenley kommt seit 15 Jahren regelmäßig hierher. „Wir haben es auch mit Spanien und Wörthersee versucht“, erzählt der Hamburger Kaufmann. „Aber der Erholungseffekt ist hier viel höher.“ Täglich Briefe und Pakete bringt seit 29 Jahren Fiete Nissen, der Postschiffer, der auch die Halligen Oland und Gröde versorgt, „nur nicht bei Eisgang und Sturm“.
Im Tadsen-Museum auf der Ketelswarf zeigt Renate Boysen, wie es sich in früheren Jahrhunderten auf Langeneß gelebt hat: In der Küche neben dem Backofen lagern „Ditten“. Touristen dürfen sie anfassen oder dran schnuppern. „Das sind getrocknete Kuhfladen“, klärt die Museumsführerin auf, „das war bei uns früher das einzige Brennmaterial.“ In der Speisekammer stehen große Steingut-Töpfe. „Hier wurden Fleisch, Fisch und Krabben aufbewahrt, gesalzen für die längere Haltbarkeit“, erzählt Renate Boysen. Das Museum ist ein im Original erhaltenes Hallighaus, dessen Grundstein 1741 gelegt wurde. Der prächtigste Raum ist der Pesel, wie die gute Stube auf Friesisch heißt. „Er wurde nur an Festtagen und zum Aufbahren der Toten benutzt.“
Die Lebensbedingungen der Halligbewohner waren hart. Da Ackerbau auf den kleinen Inseln nicht möglich war, arbeiteten die Männer als Seefahrer und Walfänger, während die Frauen Heu machten und sich um das Vieh, auch Sommervieh vom Festland, kümmerten. Durch Verarbeitung und Verkauf von Schafwolle und Wollerzeugnissen verdienten die Frauen Geld hinzu. Für die tägliche Ernährung war man auf das angewiesen, was man auf und um die Hallig fand: Porren, Fische, Vogeleier.
Baumaterialien mussten von weit her zu den baumlosen Halligen gebracht werden, weshalb man gerne Strandgut nutzte. Im Herbst und Winter werden die Halligen regelmäßig von der Nordsee überspült. Früher war es dann in den Wohnungen fast immer feucht.
Heute leben die Bewohner vor allem vom Küstenschutz und immer mehr vom Tourismus. Die Landwirtschaft ist für die meisten nur noch Nebenerwerb. Die Touristenführerin Renate Boysen hat wie viele der Frauen auf der Hallig hierher geheiratet. „Ich lebe gerne hier, es ist für mich nicht viel anders als auf dem Festland“, sagt sie. Auch Boy-Peter Andresen von der Christianswarft ist eingefleischter Langeneßer. „Wenn man hier groß geworden ist, dann hängt man daran. Eine gewisse Einsamkeit ist das schon. Man muss sich beschäftigen können“, gesteht er.
Andresen entwirft Bernsteinschmuck und malt Aquarelle, die er in seiner Warft mit Pension an Touristen verkauft. „Nirgendwo auf der Welt können Kinder so unbeschwert aufwachsen wie hier“, sagt er. „Viele Jüngere gehen weg. Die meisten mit dem Willen wiederzukommen, aber das machen nur wenige.“ Auch seine eigenen Kinder leben inzwischen zur Ausbildung auf dem Festland. Sieben Schulkinder und einen Lehrer für die Grund- und Hauptschule hat Langeneß heute. Wollen die Kinder auf weiterführende Schulen, müssen sie zu Verwandten aufs Festland ziehen oder ins Internat gehen.
„Hier sind alle Nachbarn, auch die Gäste kennt man bald. Und selbst in der Hauptsaison gibt es keinen Trubel“, weiß Andresen. Größeren Gruppen von Menschen begegnet man allenfalls im Watt – bei einer geführten Wattwanderung.
Auf einer Fahrt mit dem Rad über die flache Hallig muss man nur selten einem Auto oder einem Traktor ausweichen. Vom einen zum anderen Ende sind es runde 14 Kilometer. Bei ebener Strecke bleibt da genügend Zeit, um in der entschleunigten Zeitblase zu sinnieren.
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