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Bürgerkriegsszenario in Kaschmir

Religiös-nationalistische Konflikte führen im indischen Teil Kaschmirs zu einem neuen Ausbruch von Gewalt. Dutzende Menschen sterben. Die Situation erinnert an die blutigen Unruhen vor 20 Jahren

AUS DELHI SASCHA ZASTIRAL

Es sind Bilder einer Region im Ausnahmezustand: Tausende von Demonstranten lieferten sich am Dienstag in allen Teilen des indischen Teils von Kaschmir Straßenschlachten mit Polizeieinheiten. Sie warfen mit Steinen, drängten die Beamten in Kampfanzügen zurück und überfielen Polizeistationen. Mehrfach schossen Polizisten in die Menge und töteten zwei Dutzend Männer.

Erinnerungen werden wach an die Unruhen von 1989, denen anderthalb Jahrzehnte blutigster Gewalt folgten. Auch jetzt ist ein Ende des Gewaltausbruchs nicht abzusehen. Am Montag töteten Polizisten den profiliertesten Separatistenpolitiker der Region, Sheikh Abdul Aziz. Der Anführer der „Volksliga von Jammu und Kaschmir“ und vier andere Männer starben, als Demonstranten versuchten, die Waffenstillstandslinie zum pakistanischen Teil Kaschmirs zu durchbrechen. Sie wollten erzwingen, dass Indien eine Straße für Warenlieferungen öffnet.

Trotz Ausgangssperren kam es daraufhin am Dienstag in etlichen Städten zu gewaltsamen Protesten. Ein Kameramann des Lokalsenders 9-TV wurde in einem Vorort von Srinagar tödlich getroffen, als Demonstranten auf Sicherheitskräfte prallten, berichten lokale Medien. In Handwara im Norden des Landesteils zogen Demonstranten Polizisten aus einem Jeep und steckten Fahrzeuge in Brand. Augenzeugen berichten, ein wütender Mob habe dort auch eine Polizeistation überfallen und verwüstet. Gestern unternahm ein Protestzug von tausenden Menschen erneut den Versuch, die De-facto-Grenze zum pakistanischen Teil Kaschmirs zu durchbrechen. Ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften hinderte sie daran.

Mehrere Politiker hatten dazu aufgerufen, die Öffnung der Straße nach Muzaffarabad im pakistanischen Teil Kaschmirs durch Protestmärsche zu erzwingen. Aufgrund von Demonstrationen von Hindus in Jammu, dem südlichen Teil des Bundesstaates Jammu & Kaschmir, ist die Verbindungsstraße zum übrigen Teil Indiens seit Wochen blockiert. Landwirtschaftsverbände beklagen, die Obsternte der Bauern in Kaschmir verrotte deswegen in den Lagerhäusern, und fordern, ihre Ware nach Pakistan exportieren zu dürfen. Das lehnt Indien jedoch vehement ab.

Auslöser für die jetzigen Proteste war eine Entscheidung der Landesregierung im Juni. Die Regierung von Jammu & Kaschmir erklärte, sie werde einer religiösen Stiftung 40 Hektar Land zur Verfügung stellen. Das „Amarnath Shrine Board“ organisiert jedes Jahr eine zweimonatige Hindu-Pilgerfahrt im Süden der überwiegend muslimischen Region. Daraufhin gingen in der Regionalhauptstadt Srinagar tausende Menschen auf die Barrikaden. Denn ein Gesetz verbietet den Verkauf an Personen oder Einrichtungen außerhalb Kaschmirs. Die Landesregierung nahm die Entscheidung umgehend zurück, der Ministerpräsident legte sein Amt nieder.

Doch nun gingen Hindus im Südteil des Bundesstaates auf die Straßen. Aufgestachelt von religiösen Organisationen und hindu-nationalistischen Parteien, blockieren sie seit knapp zwei Wochen den Highway nach Srinagar. Auch in Jammu starben bei Protesten mehrere Menschen durch Kugeln von Sicherheitskräften, die Armee rückte in die Region ein, Ausgangssperren wurden verhängt. Doch die Blockaden destabilisierten Kaschmir erneut, denn es kommt seitdem zu massiven Versorgungsengpässen.

Seit dem ersten indisch-pakistanischen Krieg ist Kaschmir bis heute zwischen beiden Staaten geteilt. Delhi weigert sich nach wie vor, ein ursprünglich zugesichertes Referendum über die Zukunft Kaschmirs abzuhalten. 1989 kam es zu Massenprotesten. Anhänger militanter Islamistengruppen sickerten aus Pakistan in den indischen Teil Kaschmirs ein und begannen einen Guerillakrieg gegen indische Sicherheitskräfte. Menschenrechtsgruppen schätzen, dass dabei mehr als 40.000 Menschen ums Leben kamen.

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