: Die Kunst des Nichterledigens
Prokrastinationslehre: Besuch beim ersten Lehrstuhl für Verschiebetechnik
Nervös witternd steckt die wissenschaftliche Mitarbeiterin ihren Kopf durch die Tür. „Der Herr Professor ist gleich zum Gespräch bereit“, flötet sie, doch der so Angesprochene, ein großmütterlich wirkender Endfünfziger mit ahnungsweise blassblauen, hinter dicken Brillengläsern verschatteten Augen, der uns seit geschlagenen drei Stunden bewegungslos gegenübersitzt, protestiert. „Momentchen noch“, sagt er und vertieft sich umstandslos in die Lektüre eines weiteren Webportals. Gelegentlich durchsetzt ein professorales „Tss, tss“ die Stille, ein gemurmeltes „Na, so was“ zeigt einen Fund wissenschaftlicher Güte an, bis schließlich ein Scherzando bubenhaften Kicherns die Ankunft des Gelehrten bei YouTube verrät. Dort verweilt er eine weitere Stunde.
Professor Röslein besetzt Deutschlands erste Dozentur für angewandte und theoretische Prokrastination, und wenn mal richtig Zeit ist, soll sie in einen ordentlichen Lehrstuhl umgewandelt werden. Doch noch lehrt und arbeitet Röslein in einem Provisorium, einem in den späten Achtzigern begonnenen Rohbau, dessen Vollendung laut Dekanat „unmittelbar bevorsteht“.
Ein melancholischer Bauarbeiter, den die Unbill des Gelderwerbs aus einem kleinen ruthenischen Weiler in den deutschen Wissenschaftsbetrieb verschlagen hat, sitzt versonnen lächelnd auf einem umgedrehten Eimer und betrachtet eine aufgelassene Steckdose in der Wand. Röslein steht auf, legt dem Arbeitsmann die schmale Hand begütigend auf die bulligen Schultern und rät, bei Gelegenheit lieber einen Spezialisten zu konsultieren. Erleichtert wendet der Mann seinen Blick von der Steckdose ab und öffnet ein Bier.
Ein Tapeziertisch, der dem Scholaren als Schreibtisch dient, biegt sich unter einer Flut von Papieren, doch auf dem Boden künden halbleere Schuhkartons mit Aufschriften wie „Mach ich später“, „Allerspätestens morgen!“ oder „Eh schon vorbei“ von der faszinierenden Arbeit des wissenschaftlichen Prokrastinierens.
Während Röslein letzte, höchst dringlich wirkende Korrespondenz zu erledigen scheint, blättere ich im fragmentarischen Skript seiner Antrittsvorlesung, mit der Röslein vor bald viereinhalb Jahren seine akademische Fama begründet hatte. In bisweilen unzeitgemäß umständlicher, immer jedoch grandios abschweifender Diktion bezeichnet Röslein darin die Prokrastination als „Mutter aller Geisteswissenschaften“ und kündigt für die nahe Zukunft Belege für diese These an, ein weiterer Abschnitt, der nichts als sechs leere Blätter umfasst, ist mit der Überschrift „Die Fokussierung ist der Feind des Denkens“ versehen, bis der Text mit einigen interessanten Fakten zum byzantinischen Schiffsbau des 8. Jahrhunderts, einer kritischen Würdigung des zeitgenössischen Hundesports und schließlich einer in persönlichem Stil gehaltenen To-do-Liste („Mutter anrufen, Essen absagen, ‚Deadwood‘ gucken“) eindrucksvoll zerfasert.
Gegen Abend schlurft ein junger Mann gedankenschwer in den spärlich beleuchteten Raum und verharrt dort minutenlang, bis er sich achselzuckend wieder der Tür zuwendet.
„Die Abgabe einer Hausarbeit bahnt sich an“, flüstert mir Jerczy, der ruthenische Bauarbeiter, zu, und stellt mir den jungen Mann als einzig ordnungsgemäß immatrikulierten Studenten der Prokrastinationslehre vor. „Typischer Anfängerfehler“, sagt er abschätzig und ergeht sich in einer Tirade über die nachlassenden Standards in der akademischen Ausbildung des Fachbereichs, deren Zugangsvoraussetzungen gleichwohl unüblich hoch sind. Die Regel- beziehungsweise Mindeststudienzeit beträgt achtunddreißig Semester (c.t.), als Nebenfächer sind keine oder alle zugleich zugelassen, die Prüfungsordnung gilt als hochvisionär, aber unvollendet, sie lagert in einem Panzerschrank in Zürich oder unter einem der Papierstapel in diesem Zimmer.
Früher, sagt Jerczy, der nebenbei selbst jahrelang über Hegel prokrastiniert hat, habe man zusätzlich vor Studienbeginn eine mündliche Prüfung absolvieren müssen. Wer dort erschienen sei, war durchgefallen. Aber seit das Prokrastinieren ein Boulevardthema für die Lebenshilfeseiten der Gazetten geworden sei, so Jerczy weiter, verflache die Lehre zusehends. Neulich habe man gar eine Abschlussarbeit annehmen sollen, empört er sich.
„Eine Abschlussarbeit, verstehen Sie?“ Der Ruthene spuckt aus, Professor Röslein quittiert den emotionalen Ausbruch seines Mitarbeiters mit einem besänftigenden: „Feierabend“. Man gehe jetzt Bier trinken und weitere Projekte anstoßen, informiert er mich. Jerzcy bittet mich, derweil die Steckdose zu reparieren. „Ich weiß nicht“, antworte ich, „Morgen ist ja auch noch ein Tag.“
Wir müssen uns den Prokrastinierer als glücklichen Menschen vorstellen.
CHRISTIAN BARTEL
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