: Die Tragik im Erfolg
Die Kanuten sammeln Medaillen wie kein anderer deutscher Verband – und verzweifeln doch an den Erwartungen
PEKING taz ■ Es gibt romantischere Orte als diesen, an denen ein Pärchen sich in den Armen liegen kann. Aber Tim Wieskötter und Nicole Reinhardt brauchen Trost, jetzt sofort, also vergessen sie die Welt um sich herum: den schmalen Durchgang zwischen flachen Containerhäuschen, in denen Journalisten das Unglück der beiden als nüchterne Zahlenfolgen in alle Welt verbreiten; die Fotografen, die ihre Auslöser dauergedrückt halten; und die neugierigen Blicke der Umstehenden. Sie hat ihre Arme um seinen Hals geschlungen, er seine um ihre Taille. Eine Olympiasiegerin und ein Olympiazweiter, enttäuscht von einer Medaillenausbeute, die andere Athleten in einen Freudentaumel versetzen würde.
„Das ist alles eine Frage des Maßstabs“, sagt Tim Wieskötter. Die Messlatte der deutschen Kanuten hängt nun mal so hoch, dass schnell auch mal jemand drunter durchrauscht. Am Samstag, dem zweiten olympischen Finaltag der Kanuten im Shunyi-Park nördlich von Peking, ist das fast allen deutschen Booten passiert. Mit einmal Silber und zweimal Bronze blieb die Flotte hinter ihren Erwartungen zurück, die am Tag zuvor mit zweimal Gold, einmal Silber und einmal Bronze noch geschürt worden waren. Am Ende standen sieben Medaillen für die deutschen Kanuten. Das hört sich toll an, ist aber die schlechteste Olympiabilanz einer gesamtdeutschen Mannschaft.
Tim Wieskötter und Ronald Rauhe sind im Kajak-Zweier über 500 Meter Zweiter geworden und kämpfen mit den Tränen. Sie haben Gold verloren. Das ist ihnen seit dem Olympiafinale 2000 in Sydney nicht mehr passiert. Die beiden Potsdamer haben seitdem immer gewonnen. Jeden Saisonhöhepunkt, jedes Jahr. Doch in Peking preschten die Spanier Saul Craviotto und Carlos Perez den Deutschen vom Start weg davon und Rauhe/Wieskötter nutzte selbst ihr fulminanter Schlusssprint nichts mehr. „Ausgerechnet hier hätte die Siegesserie am allerwenigsten abbrechen dürfen“, sagte Wieskötter. Und Rauhe fügte an: „Wir brauchen jetzt erst mal zwei bis drei Tage, bis wir uns über Silber freuen können.“
Für Wieskötters Freundin Nicole Reinhardt endete der Tag noch etwas trister. Mit ihrer Zweierpartnerin Fanny Fischer, der Nichte von Rekordolympiasiegerin Birgit Fischer, war sie angetreten, um dem WM-Sieg vor einem Jahr in Duisburg nun auch olympisches Gold folgen zu lassen. Doch das Duo wurde nur Vierter. Immerhin: Am Tag zuvor hatten sie sich im Frauen-Vierer ja schon Gold abgeholt. Somit wird nicht ganz klar, wer bei der minutenlangen Umarmung nun eigentlich wen tröstet. Der Olympiazweite die Vierte, oder die Olympiasiegerin den Olympiazweiten?
Uneingeschränkt glücklich war an diesem Tag einzig Katrin Wagner-Augustin als Dritte im Einer. Die Potsdamerin fuhr hinter Inna Osypenko-Radomska aus der Ukraine und Josefa Idem aus Italien über die Ziellinie und holte damit die erste Medaille im Frauen-Einer seit dem Sieg von Birgit Fischer 1992 in Barcelona. Sie sei den Einer in den letzten Jahren immer nur gefahren, weil sie musste, sagt Wagner-Augustin. „Der Einer ist ein hartes Brot, viele verstecken sich lieber in den Mannschaftsbooten, da sind die Medaillen leichter zu gewinnen.“ Diesmal habe sie jedoch endlich mal Spaß gehabt – und wurde dafür belohnt. Mit Bronze und einem Job bei der Abschlussfeier: Gestern durfte sie die deutsche Fahne tragen.
Christian Gille und Tomasz Wylenzek hatten nach ihrer Unglücksfahrt zu Silber über 1.000 Meter am Tag zuvor zunächst um einen zweiten Start über 500 Meter gebangt. Sie hatten im Ziel eine Boje gerammt, waren ins Wasser gefallen, Gille war von einer Erkältung geschwächt und Wylenzek erlitt kurz nach dem Rennen einen Kreislaufzusammenbruch. Am Samstag waren beide jedoch wieder fit genug für Bronze. Der Essener Wylenzek ist am Ende dennoch froh, dass es vorbei ist: „Der Druck war in den vergangenen Wochen und Monaten schon enorm hoch“, sagt er. Die Messlatte hing so verdammt hoch. Zu hoch vielleicht.
SUSANNE ROHLFING
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