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Sponti im Anzug

Die Kammerphilharmonie hat ihre „Heimat“ in einem Brennpunkt gefunden. An Kulturbrüchen entsteht Neues, findet Dirigent Paavo Järvi. Zukunftsforscher Matthias Horx erklärte den VIP-Gästen der Sparkasse, wie veraltet sie sind

AUS BREMEN KLAUS WOLSCHNER

Die Szene war skurril: Im Saal gut 100 Männer im dunklen Anzug, Krawatte, weißes Hemd. Die Bremer Sparkasse hatte zu ihrem „Dialog am Brill“ eingeladen. Was sich VIP fühlt und die Sparkasse braucht, war da. Vorne der Frankfurter Alt-Sponti und Zukunftsforscher Matthias Horx, der ein rhetorisches Feuerwerk für die „kreative Klasse“ abbrannte. Der Beamer zeigte ein Schlagwort nach dem anderen, und dann das: Auf der Leinwand sind fünf Männer im Anzug, Altersdurchschnitt um die 50, angegrautes Haupthaar. Die klassische deutsche Vorstandsetage, sagt Horx, eine Welt von gestern, die „alte Elite“: dasselbe Alter, dieselbe Hautfarbe, dieselbe Automarke. Ein Sinnbild fehlender Kreativität.

Das war genau das Abbild des Publikums auf der Gästeetage der Sparkasse. Und Horx stellte ihnen sein Sinnbild der Kreativen vor: Schwarze und Weiße, Alt und Jung, Verrückte und Spinner bunt gemischt. Diversität, Individualität ist entscheidend, erklärte Horx den grauen Anzügen. „Unterschiedliche Menschen müssen gut kooperieren“, das sei das Geheimnis der kreativen Klasse von morgen. Deutschland sei noch weit hinterher.

Das Sparkassen-Publikum hörte sich das alles an und applaudierte brav. Irgendwie auch interessiert. Horx stellte bei seinem Vortrag über das Thema Bildung (fast) alles in Frage, was im Führungsalltag selbstverständlich ist. Fachwissen zum Beispiel. Für Horx der Leitbegriff einer versinkenden Kultur. „Komplexe Kommunikation“, das müssten Schüler heute lernen. Der Theaterraum müsse das architektonische Zentrum der Schule sein, zitierte er Enja Riegel.

Das ist der Grund, warum Führungskräfte sich gern nach der Arbeit mit Kultur befassen, da darf man so spinnen. Zu Beginn der „Dialog“-Veranstaltung hatte die Sparkasse den Künstlerischen Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eingeladen, Paavo Järvi. Das ist einer der Top-Dirigenten mit Orchestern in Cincinnati, Riga, Frankfurt und Bremen – demnächst auch Paris – eine Führungskraft auf dem Felde der Kultur. Sein Vater war übrigens Dirigent gewesen, sein Onkel, sein Bruder, das scheint in der Familie Järvi so zu sein wie im Bergbau im 19. Jahrhundert.

Die Kammerphilharmonie hat vor zwei Jahren ihr Domizil in einer Gesamtschule im Hochhaus-Stadtteil Osterholz bezogen. Migranten diverser Nationen leben da, ein „Brennpunkt“. Und mittendrin das Orchester, das sich musikalisch zur Welt-Elite zählt. Järvi scheint geradezu fasziniert von dem Kulturschock. „Was sind das für Tiere?“, so hätten die Schüler anfangs geguckt. Schüler, die es gewohnt sind, dass nach fünf Minuten Unterricht alles wegdöst, hätten in Proben erlebt, wie diese fremden Tiere eine Stunde konzentriert arbeiten. Musiker dieses unkonventionellen Orchesters, in dem jeder Musiker sein eigener Unternehmer ist, die vermutlich nie einen Grund gehabt hätten, in diese Gesamtschule zu gehen, saßen in der Mensa mit Schülern zusammen. Gerade an dem absoluten Kulturbruch entstehe Neues, meinte Järvi. Die Kids seien heute stolz auf „ihr Orchester“.

Die Sparkasse habe in dem Stadtteil eine Filiale schließen müssen wegen des Vandalismus, berichtete der Sparkassen-Chef Jürgen Oltmann. Projekte wie das der Kammerphilharmonie und andere hätten den Stadtteil aufgewertet, es gebe heute deutlich weniger Gewalt als früher. So ist die kreative Kultur auch für das Geschäft gut. Auch Horx kam übrigens im grauen Anzug.

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