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VIELE KAPITÄNE IM ÄRMELKANAL HANDELN UNVERANTWORTLICHGeld und Technik gegen das Risiko

Die Skepsis sitzt tief. Eine ganze Generation von Ingenieuren hat uns nicht davon überzeugt, dass ihre Apparate mit hinreichender Sicherheit Katastrophen verhindern können. Von der Reaktorschmelze in Tschernobyl über den Flughafenbrand in Düsseldorf bis zum Seilbahn-Inferno in Kaprun, überall führte eine Kombination aus technischen Mängeln und Fehlentscheidungen zum Tod von Menschen, zur Zerstörung der Natur, zur Vernichtung materieller Werte.

Nun scheint ein Wendepunkt erreicht: In der letzten Zeit häufen sich die Katastrophen, in denen eindeutig nicht mehr die Technik versagt, sondern nur noch der Mensch. Bei der Flugzeugkollision über dem Bodensee gab ein Fluglotse einem Piloten falsche Kommandos, obwohl die Geräte den korrekten Weg aus der Gefahr anwiesen. Die Ägäisfähre „Express Samina“ rammte einen Felsen und sank, weil die Mannschaft ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgte. Um menschliche Unzuverlässigkeit ging es wohl auch bei der neuerlichen Kollision im Ärmelkanal, bei der jetzt der türkische Tanker „Vicky“ auf das Wrack der „Tricolor“ auffuhr – nachdem der deutsche Frachter „Nicola“ die „Tricolor“ bereits eineinhalb Tage nach ihrem Untergang gerammt hatte.

Diese beiden Zusammenstöße sind grotesk. Das Wrack gilt als abgesichert, auch an Information, Kommunikation und Navigation mangelt es nicht. So scheint der Verdacht begründet, die Kapitäne hätten sich riskante Passagen zugetraut, gerade weil sie so gut mit Technik ausgerüstet waren. Die „NDS Provider“ passierte einen Tag nach der „Nicola“-Havarie mit hundert Meter Abstand die „Tricolor“, und das auch nur, weil ein Messflugzeug die „Provider“ durch Flügelwackeln zu einer Kurskorrektur bewog. Der „Provider“-Käptn hätte es gerne knapper gehabt: Nach Angaben seiner zypriotischen Reederei wusste er genau, wo das Wrack lag. Da werden die Standardausreden der Seeoffiziere – zu großer Zeitdruck, zu lange Arbeitsschichten, zu schlechte Markierungen – schlicht lächerlich.

Am längsten Hebel sitzen jetzt die Seeversicherer. Wenn sie ihre Haftungsausschlüsse bei Risikoverhalten erweitern und riskante Manöver der Kapitäne einwandfrei dokumentierbar sind, werden die Reeder ihr Personal zu sicherem Handeln drängen. Dazu müssen vor allem Schiffsschreiber ähnlich den Fahrten- und Flugschreibern eingeführt werden. Am Ende kann also wieder nur der Einsatz von Apparaten verantwortliches Verhalten der Menschen erzwingen. Für die Verhältnisse an Land ist das einfacher als für die Lage auf hoher, nämlich exterritorialer See. Wo Recht und Gesetz fehlen, Abenteurer zu bestrafen, müssen es wieder Geld und Technik richten. DIETMAR BARTZ

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