: Fleißig, pünktlich, chancenlos
Am 22. Oktober will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ländervertretern in Dresden zum „Nationalen Bildungsgipfel“ treffen. Ein Ausweg aus der deutschen Bildungsmisere? Oder reine Symbolpolitik? Die Autoren der taz beschreiben in einer sechsteiligen Serie, wo die drängendsten Probleme auf der Baustelle Bildung liegen. Der Blick richtet sich vor allen Dingen auf die Kellerkinder des Bildungssystems: Die rund 80.000 Schülerinnen und Schüler, die jährlich die Schule ohne Abschluss verlassen. Die gut 400.000 Sonderschüler, die es auf dem Ausbildungsmarkt besonders schwer haben. Oder die rund 500.000 Jugendlichen, die lediglich in Übergangsmaßnahmen geparkt werden, anstatt auf dem klassischen Weg einen Beruf erlernen zu dürfen. TAZ
AUS BERLIN JOHANNES GERNERT
Sein Vater und der Schwager haben an dem Tag zufällig auf derselben Baustelle gearbeitet. Sie haben Daniel* vorher noch schnell zusammen hingefahren und ihn in das große Gebäude am Kurfürstendamm gebracht. Die beiden haben sich dann verabschiedet, und Daniel wurde in einen Raum geführt, in dem schon einige andere saßen. Er hatte den Anzug an, den er für die Hochzeit seiner Schwester bekommen hatte. Auf einer Leinwand lief ein Film. Es waren Leute zu sehen, die in dem Elektromarkt einkaufen. Und Leute, die dort arbeiten. Eine Stimme erzählte etwas von einer Zukunft. Davon, dass man aufsteigen konnte. Es war ein schneller Film. Es kam Daniel wie ein Wettrennen vor. Seine Hände waren feucht, und er wusste, dass das heute seine Chance war.
Der Schuldirektor sagt, dass die Pünktlichen eine Chance haben. Die Fleißigen, die mit den ordentlichen Noten. Die, die immer zum Unterricht kommen. Die haben eine Chance. Vielleicht. Der Direktor heißt Jens-Jürgen Saurin, trägt Jackett, Jeans und eine große, runde Brille ohne Rand. Seine Haare sind fast weiß und stehen ein wenig ab. Er sitzt in einem großen Zimmer mit viel Licht und hellen Möbeln. Es sei ja bekannt, sagt der Direktor, dass es schon für die Hauptschüler schwer ist, an einen Ausbildungsplatz zu kommen. Für Sonderschüler, noch dazu aus dem Zentrum des sozialen Brennpunkts Berlin-Neukölln, ist es fast unmöglich. Adolf-Reichwein-Schule, Sonnenallee. Dreiviertel der Eltern stammen aus arabischen Ländern, der Türkei, aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ein paar Straßen weiter ist Anfang des Jahres der Rapper Massiv angeschossen worden. Vorn an der S-Bahn stehen die Dealer.
Daniel hatte in seine Bewerbung geschrieben, dass er pünktlich ist. Zuverlässig. Und hilfsbereit. Bereit für jede Arbeit. Er war für ein Praktikum vorher bei einem anderen Elektromarkt gewesen. Er sagt: „Ich habe viele Praktikums im verkaufmännischen Bereich gemacht.“ Seine Zeugnisse waren okay. Sie haben ihn zum Gespräch eingeladen, am Kürstendamm. Nachdem er den Film gesehen hatte, sollte er etwas über sich erzählen. Es waren auf einmal viele andere Leute in dem Raum und seine Hände haben gezittert. Er hat gesagt, dass seine Mutter Rentnerin ist, weil sie krank ist, und dass er noch keine Auslandserfahrung hat. Die anderen hatten fast alle Auslandserfahrung.
Am ovalen Tisch im Direktorat sitzen einige Lehrer, alle um die vierzig. Es gibt Kaffee und Kekse. Jemand klopft an. Mehmet habe ein Stück Rübli-Torte für Herrn Uhlig. Das ist nett, sagt Herr Uhlig, aber doch nicht jetzt. Die Abschlussklassen hatten gerade ihre Präsentationsprüfungen. Sie haben vor einer kleinen Kommission gezeigt, wie man Torte backt, wie man Taschen näht oder wie man Fotos bearbeitet. In den Wochen danach schreiben sie Tests in Deutsch und Mathe, um eine Art Hauptschulabschluss zu machen. Außerdem lädt das Arbeitsamt einige von ihnen ein und überprüft, was sie an der Schule gelernt haben. Sie bekommen dann eine Empfehlung, ob sie an eine normale Berufsschule sollen, eine Förderberufsschule oder in eine Maßnahme. Die meisten gehen an Berufsschulen mit Förderschwerpunkt. Die Auswahl ist überschaubar: Holz und Metall, Textil, Garten, Hauswirtschaft. Die Lehrer überlegen, ob jemand direkt nach der Schule schon einmal eine Ausbildung angefangen hat, mit einem Platz in einem Unternehmen. Es fällt ihnen keiner ein.
Einige Tage später hat ein Teil der Abschlussklasse Textilunterricht. Erste Stunde. Schülerfirma. Sie nähen Taschen, Ponchos, Kissen und verkaufen sie später – an Ständen, draußen im Einkaufszentrum. Sie üben das, wofür sie wahrscheinlich kaum jemand haben will. Den Ernstfall. Serkan hat seinen Kopf auf den Tisch abgelegt. Günay wippt mit dem Fuß. Ein Mädchen sagt, dass sie Kfz-Mechanikerin werden möchte oder Schreinerin. „Da brauchst du heute Abitur“, sagt die Lehrerin. „Das kannste vergessen.“ Sie sagt das sehr sachlich.
Daniel hatte schon bei der Sache mit der Auslandserfahrung ein komisches Gefühl. Er hat dann trotzdem den Mathetest gemacht und gemeinsam mit anderen Bewerbern überlegt, wie sie als Umweltpartei verhindern, dass das neue Industriegebiet dem Wald mit all seinen Tieren schadet. Es war ziemlich kompliziert. Er musste einen Grill und einen Ventilator richtig aufstellen und ein bisschen von seinen Hobbys erzählen. Mit Freunden und Computer, hat er gesagt. Dann war es vorbei. Er hat kurz gewartet, und sie haben ihm mitgeteilt, dass es leider nicht geklappt hat. Als er rausging, war es dunkel.
Jan F. sagt, dass sie in diesem Jahr eine außergewöhnlich gute Abschlussklasse haben. Er ist der Klassenlehrer, 39 Jahre alt, trägt eine beige Hose mit ausgebeulten Seitentaschen, auf dem Kopf hat er nur noch wenige Haare. Sie sind meistens pünktlich, sie halten zusammen. Es kommen seltener als bei anderen Klassen Väter mit Handys vorbei und zeigen vorwurfsvoll Filme, auf denen ihre Kinder verprügelt werden. Sie wollen etwas erreichen. Einige werden es auf die Hauptschule schaffen. Und trotzdem: Daniel ist der Einzige gewesen, der zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wurde.
„War ’ne Erfahrung“, sagt er. Er sitzt auf einem Schreibtischstuhl im Computerraum, breit und rund, schwarzes T-Shirt, schwarze Hose, schwarze Sneakers. Er schaut immer ein bisschen, als hätte ihn gerade jemand erschreckt. An der Wand hängt ein Fotokalender, den sie gemacht haben. Berliner Motive: Brandenburger Tor, Schloss Bellevue. „War ’ne Erfahrung.“ Es soll klingen wie: Abgehakt. Nächste Chance! Aber er weiß nicht, ob es so eine noch mal geben wird. Eigentlich hätte er im Sommer ein Praktikum bei einem Elektromarkt machen sollen. Das hat er abgesagt. Er ist enttäuscht. Es war eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Er weiß jetzt ungefähr, was er wert ist. Auf dem Arbeitsmarkt.
Der Direktor sagt, sie merken es alle irgendwann, dass es hart werden wird. Selbst wenn er sie für berufsfähig hält. „Das Schlimme in unserer Gesellschaft ist, dass es auch für diejenigen, die hervorragende Ergebnisse haben, keine Garantie gibt auf Beschäftigung.“ In ihrer Position bräuchten seine Schüler extrem viel Geduld und Ausdauer, aber gerade davon haben sie in der Regel am allerwenigsten. „Die Frustrationstoleranz“, sagt der Klassenlehrer Jan F., „ist sehr gering.“ Nach der großen Pause läuft er über den Hof. Jugendliche essen Chips aus Tüten. Einer macht Witze über seine Halbglatze. Er geht nach oben ins Klassenzimmer. Mathestunde. Es sind noch eineinhalb Wochen bis zur Abschlussarbeit.
Jan F. stellt sich vor die nass glänzende Tafel: „Ich möchte jetzt bitte, dass es absolut ruhig ist hier.“ Für ein paar Sekunden wird es vollkommen still. Er zeigt Bilder von einer Feuerbohne, die immer größer wird, dann eine Tabelle mit den Maßen. Wie heißt die eine Achse des Koordinatensystems? Mehmet liegt auf dem Tisch, schnippst mit dem Finger und murmelt „Siehst du mich nicht“ vor sich hin. „Ja, ist okay, du Scheißer“, ruft er dann plötzlich. Jan F. sagt, dass sie bitte aufpassen müssen, er könne das nicht jedem einzeln erklären. „Ich ficke deine Eltern“, schreit Mehmet. Jan F. schaut ihn scharf an. „Du hast gefragt, wie heißt diese Achse. Er hat ‚Mehmets Mutter‘ gesagt“, ruft Mehmet, um sich zu rechtfertigen und zeigt auf Günay. Es gibt ganz kurze Momente der Ruhe, aber meist schreit irgendeiner, manchmal prügeln sie sich fast, gelegentlich richtig. Jan F. sagt, dass es in der fünften Stunde immer ein bisschen schwierig ist.
Christiane fragt, ob die Vergleichsarbeiten für den Hauptschulabschluss so schwierig sind wie die Tests, die sie in der Klasse geschrieben haben. „Es tut mir Leid, dich zu enttäuschen, aber diese Mathearbeiten sind etwas leichter als die Vergleichsarbeiten“, sagt Jan F.. Enttäuschen gehört zu seinem Job.
Jan F. würde sich manchmal einen intensiveren Kontakt zum Arbeitsamt wünschen. Früher sind Betreuer von dort an die Schule gekommen. Jetzt schicken sie eher Briefe. Viele Abgänger, hat Jan F. beobachtet, landen langfristig in Dönerbuden oder Reinigungen, wo sie einfache Aushilfsjobs machen. Nicht selten scheitern sie an der Berufsschule, selbst wenn sie es bis dorthin geschafft haben.
Aber es gibt immer wieder Leute, bei denen er hofft. Einmal hatte einer bei einem Tischler angefangen. Es lief alles gut. Er hatte dort einen Mentor, der sich um ihn kümmerte. Irgendwann aber nahm der mehrere Wochen Urlaub. Da war es vorbei. „Die brauchen einen festen Ansprechpartner“, sagt Jan F.. „Der persönliche Kontakt ist wichtig.“ In der Schule können sie den noch bieten. Aber danach?
Daniel wird jetzt einen berufsqualifizierenden Lehrgang zum Maler machen. Jan F. hatte eigentlich vorgeschlagen, ihn an eine Medienschule zu schicken, weil er sich so gut mit Computern auskennt. Er hat außerdem ziemlich viele Allergien und ist Asthmatiker, da könnte das mit den Dämpfen schwierig werden. Aber die beim Arbeitsamt meinten, das seien Ökofarben.
Lernbehindert, sagt der Direktor, sei ein rein schulischer Begriff. „Danach gibt es nur noch Arbeitslose, Arbeitssuchende.“
* Namen der Schüler geändert
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