: Untiefen der Weltoffenheit
BERLIN taz ■ Wer eine Sprache für die Gegenwart finden möchte, der darf sich sein Denken nicht von der eigenen Kultur einengen lassen! Das ist das Diktum, das die Schwedische Akademie de facto zum Leitkriterium für Literatur von Weltrang ausruft. Das Wandern zwischen den Kulturen soll schon sein! Zumal in Europa, meint der jüngst für Wirbel sorgende Literaturkritiker Horace Engdahl, der in seiner einflussreichen Funktion als Ständiger Sekretär alljährlich den Gewinner des Literaturnobelpreises verkündet.
Engdahl übte kürzlich harsche Kritik an der US-amerikanischen Literatur. Sie sei prinzipiell selbstbezogen und daher „unwissend“. Diese Aussage möchte den diesjährigen Träger des Literaturnobelpreis Jean-Marie Gustave Le Clézio adeln, indem sie einmal mehr einen Antagonismus zwischen Europa und den USA beschwört. Waren die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert noch der Inbegriff des internationalen Denkens, dominiere dort heute die Nabelschau in einem Maße, dass selbst amerikanische Großschriftsteller wie Don DeLillo oder Thomas Pynchon ihr erlegen seien.
Dieser Borniertheit wird Jean-Marie Le Clézio entgegengesetzt – als weltoffen. Denn in seinen Romanen begegnet der französischsprachige Autor der westlichen Rationalität mit erklärten Zweifeln und kombiniert sie mit Wissen aus der sogenannten Dritten Welt. Auch seine Biografie folgt dem Prinzip der Grenzüberschreitung: Le Clézio führt ein Leben zwischen Mauritius, Albuquerque und New Mexico.
Nun ist die konstruktive Beschäftigung mit fremdem Wissen tatsächlich eine nicht zu überschätzende Leistung. Mit ihr geht notwendig die Erkenntnis einher, dass die eigene Weise, die Welt wahrzunehmen und zu ordnen, nur relativ ist und daher prinzipiell niemals über Kritik erhaben. Das Wandern zwischen Kulturen bietet nichts anderes als die Basis dafür, auseinanderdriftende Perspektiven in Beziehung zueinander zu setzen. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Dialog, folglich das Gegenprogramm zur Arroganz eines George W. Bush oder McCain und ihrer Entourage. Deren fatale Provinzialität zurückzuweisen ist also zweifellos berechtigt.
Das Problem der Feier einer vermeintlich typisch europäischen Transkulturalität liegt woanders: in dem allseits so beliebten unüberwindbaren Gegensatz, der zwischen Europa und den USA behauptet wird. Wer als Reflex auf das von den USA ausgehende weltweite Desaster Europa das Etikett anheftet, dieser Staatenverbund hielte nun aber mit den Herausforderungen unserer tumultgeplagten Gegenwart Schritt, bleibt weit hinterher der propagierten Weltoffenheit zurück. Denn er frönt einmal mehr einem Denken, das die Welt entlang von nationalen und kulturellen Grenzen ordnet und gegeneinander ausspielt.
Wer zudem Schriftsteller als Repräsentanten ihrer Gesellschaften in Haftung nimmt – ob im positivem oder im negativen Sinn! – und in der Folge Jean-Marie Gustave Le Clézio als Vertreter einer europäischen Offenheit feiert, weist sich als selbstgerecht aus. Eine solche Denkfaulheit wird Le Clézio mit Sicherheit nicht gerecht. INES KAPPERT
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