: Keine Fragen, keine Antworten
ORLANDO FIGES, 48, lehrt Geschichte am Birkbeck College in London und publizierte mehrere Bücher zur russischen Vergangenheit. Sein aktuelles Buch, „Die Flüsterer“ (2008, Berlin Verlag), dokumentiert die Auswirkungen der stalinistischen Politik auf das Privatleben der Russen (taz v. 4. Okt. 2008).
Der Historiker Orlando Figes hat ein Buch über die Erinnerungskultur in Sowjetrussland geschrieben, das viele Fragen aufwirft: für das Russland von heute, in dem immer noch geschwiegen wird
INTERVIEW JADRANKA KURSAR UND GINA BUCHER
taz: Herr Figes, Sie beschreiben in Ihrem Buch „Die Flüsterer“, wie die Menschen im stalinistischen Russland höchstens leise redeten. Gab es damals dennoch Orte, wo es lauter zuging?
Orlando Figes: Durchaus – es gab Momente, in denen die Leute lauter miteinander sprachen, vor oder während des Krieges etwa. Aber der Umgang mit Worten war sehr behutsam, selbst im Privaten. Denn die Wände waren dünn.
Worüber wurde gesprochen?
Der Spielraum, über was geredet werden konnte, war sehr begrenzt. Die Eltern sprachen sehr vorsichtig mit ihren Kindern über ihre politische Meinung. Die Phrase „Hüte deine Zunge“ verstand jeder.
Und – wussten die Kinder im stalinistischen Russland ihre Zunge zu hüten?
Die Kinder sollten niemals Fragen stellen, wieso etwas passiert. Es war keine Frage, wieso es kein Brot im Geschäft gab. Die Menschen lernten schnell, zu schweigen, um nicht ins Gefängnis zu kommen.
Bereits die Kinder wurden mit Schweigen sozialisiert?
Ja, da waren zwar keine expliziten Hinweise, aber die Kinder nahmen das intuitiv auf.
Aber heute sprechen die Kinder von damals?
Ich glaube, wir kamen rechtzeitig. In den Neunzigern war der Kommunismus noch zu präsent, die Menschen hätten sich gefürchtet zu reden. 2003 aber war eine gute Zeit. Die erste Generation der stalinistischen Gesellschaft war bereits Ende siebzig, Anfang achtzig. Sie wollte die schrecklichen Erinnerungen aus dem Kopf haben.
Welche Rolle spielte dabei Putins Politik?
Paradoxerweise half uns sein Regime bei der Arbeit. Indem sie versuchten, die Stalin-Zeit zu rehabilitieren, marginalisierten sie die Einzelschicksale. Die Menschen aber hatten den Drang, darüber zu reden.
Wie viele Generationen braucht eine Gesellschaft bis sie über ihre traumatische Vergangenheit sprechen kann?
Eine schwierige Frage – ich glaube, Russland lebt noch immer im Schatten des Stalin-Terrors. Selbst die Nachfolgegenerationen wuchsen in einer Kultur auf, in der man nicht fragte und schon gar nicht die politischen Autoritäten infrage stellt.
Und all jene Verfolgten und Deportierten, die unter Stalins Terror litten, forderten keine Korrektur der offiziellen Geschichtsschreibung?
Auch sie wuchsen mit der sowjetischen Erinnerungskultur auf. Sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren konnte auch heißen, sich plötzlich für die Geschichte seines Landes schämen zu müssen. Als Putin sagte, es gibt viele Gründe, stolzer Russe zu sein, war das für viele eine gute Botschaft. Er gab ihnen die Legitimation, zu ihrer Vergangenheit keine Fragen zu stellen. Damit führte er die Kultur fort, die die Russen im sowjetischen System jahrzehntelang lebten: keine Fragen. Genau so, wie es ihnen ihre Eltern vorgelebt hatten.
Wie reagierten die Russen auf Ihr Projekt?
Die meisten Russen, die ich während des Projektes traf, waren sehr begeistert und zugänglich. Einigte meinten aber auch, die Aufarbeitung der Vergangenheit sei überflüssig.
Jene aber, die Ihnen ihre Geschichte erzählten, hatten ein Bedürfnis, zu reden?
Sehr – obwohl der Prozess, sich zu erinnern und Interviews zu geben, für einige sehr schmerzhaft war. Viele wurden krank, konnten nicht mehr schlafen und essen, und wir wussten nicht, ob sie weitererzählen konnten. Trotzdem war aber der Wunsch, zu sprechen, groß.
Das Zuhören war Teil Ihrer Methode?
Trotz methodischer Vorbehalte, ja. Schließlich gab es keinen anderen Weg die Geschichte der Unterdrückten aufzunehmen. Die offiziellen Archive präsentieren oft falsche Zahlen, teils sogar Lügen.
Zu den Geschichten gehörten auch private Fotografien und Briefe.
Wir wollten Einblick in die privaten Archive. Indem wir mit den Menschen sprachen, gewannen wir ihr Vertrauen. So sahen wir Fotos und Briefe, die sie etwa unter ihrer Bettmatratze lagerten. Viele alte Menschen haben das Gefühl, dass die jungen Leute nicht an ihrer Geschichte interessiert sind. Eine alte Frau zeigte uns ihr Fotoalbum – natürlich war sie nicht bereit, es uns mitzugeben. Aber mit guter Ausrüstung konnten wir vor Ort archivieren. Und das war vielen wichtig, dass wir ihre Andenken sorgfältig archivierten.
Wurde viel aufbewahrt?
In Perm, wo ich begann, war ich schockiert, wie wenig vorhanden war, zum Teil nicht einmal eine Fotografie der Eltern oder Großeltern. Nicht nur aus Armut, sondern auch aufgrund der systematischen Entwurzelung. Nach Perm wurden viele ins Exil geschickt, die meisten in den Gulag. Da nimmt man keine Fotoalben mit, sondern warme Kleider.
Wie fanden Sie die Zeugen jener Geschichten?
Ich begann bei jenen Familien, die ich noch aus meiner Studienzeit in den Achtzigern aus Moskau kannte. Durch sie lernte ich weitere kennen. Diese Beziehungen funktionierten über glaubwürdige Kontakte, nur so konnte ich mir ein Netzwerk aufbauen.
Was fühlten die Menschen, wenn sie ihre Geschichten erzählten?
Sie hatten widersprüchliche Gefühle. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Menschen, die wir befragten, nicht mehr viel über ihre Familiengeschichte wussten. Sie waren in den Zwanzigerjahren Kinder gewesen – also von ihren Eltern durch Schweigen geschützt. Oder sie hatten ihre Eltern zu früh verloren, um starke Erinnerungen zu haben.
Und übrig blieben …
… Familienlegenden. Tamara Trubina etwa wusste kaum etwas über ihren Vater und tröstete sich mit dem Glauben, er sei ein guter Mann gewesen, der als Freiwilliger im Fernen Osten verschwand.
Wie reagierte sie, als Sie sie mit gegenteiligen Informationen konfrontierten?
Erschütternd – sie hielt an ihrer Geschichte fest. Wenn sie nachträglich erfährt, dass ihr Vater als Volksfeind umgebracht wurde, ändert das ihre Lebensgeschichte und Identität als treue Sowjetin komplett.
Die Politik operierte geschickt mit Gefühlen wie Schuld und Scham?
Scham spielte eine große Rolle. Wenn die Eltern unterdrückt werden, dann überträgt sich das Stigma auf die Kinder. Die Kinder von politisch Verfolgten spüren ein Schuldgefühl und deshalb ein sehr starkes Bedürfnis nach Akzeptanz und Gleichberechtigung in der Gesellschaft, in der sie leben.
Das ist paradox.
Ja, ich hörte die Geschichte einer Tochter eines Juristen. Er weigerte sich, eine gesetzliche Rechtfertigung für das Gulagsystem aufzusetzen. Das Letzte, was er 1937 bei seiner Verhaftung zu seiner Tochter sagte, war: „Sei eine gute Kommunistin.“ Das wollte sie natürlich, denn als akzeptierte Sowjetin gewann sie ihre Würde wieder. Gleichzeitig war das eine Möglichkeit, die Würde ihrer Eltern wiederherzustellen.
Funktionierte das?
Stalin fürchtete sich 1937 vor der internationalen Situation und der Opposition. Die Kulakenfamilien wollte er loswerden, indem er sie vom System entfremdete. Unser Projekt aber zeigt, dass das nicht so einfach war. Die Unterdrückten stellten sich nicht wie gewünscht quer, sondern passten sich an, weil die unterdrückten Eltern ihre Kinder schützten, indem sie ihnen die Wahrheit nicht erzählten. So verhinderten sie, dass sie sich vom System entfremdeten.
Die heutigen 15- bis 20-Jährigen sind nicht mehr im Sowjetsystem geboren und könnten Fragen stellen.
Sie könnten. Für ein Radioprojekt in Moskau interviewten wir auch Schüler – einige waren alarmierend ignorant.
Wie erklären Sie sich diese Ignoranz?
Diese Kinder hören daheim andere Geschichten. Zum Beispiel, dass Stalin nicht die schrecklichste Figur der russischen Geschichte des letzten Jahrhunderts war, sondern der „kriminelle“ Gorbatschow, weil er die Sowjetunion zerstörte. Viele Russen glauben das.
Gibt es offizielle Versuche der Vergangenheitsbewältigung?
Die Regierung leugnet die Unterdrückung nicht, aber sie betont sehr, dass Stalin auch gute Dinge für Russland tat. Zwar steht das Thema auf dem Lehrplan, aber nur marginal. In den Universitäten und in den Schulen ist es schwierig, darüber zu sprechen. Und die Geschichtsbücher sehen aus wie die alten sowjetischen Lehrbücher.
Zeit also, Ihr Buch auf Russisch zu übersetzen?
Ja … Tatsächlich unterschreibe ich gerade einen solchen Vertrag. Aber noch mehr hoffe ich, dass die Russen selbst darüber nachdenken. Bemerkenswert, dass noch kein russischer Historiker ein ähnliches Buch geschrieben hat.
Was bewegte Sie dazu, den Erben der stalinistischen Gesellschaft zuzuhören?
Während meines Studiums war ich zunächst an den Junghegelianern interessiert. Aber ein Freund in Cambridge meinte damals: „Mit einem Kater möchtest du nicht jeden Morgen mit Hegel kämpfen.“ Diesen Rat nahm ich mir zu Herzen.
GINA BUCHER, Jahrgang 1978, ist taz.mag-Mitarbeiterin, JADRANKA KURSAR, Jahrgang 1976, hat bis vor Kurzem im taz.mag ein Praktikum absolviert
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