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Der Zweifler

Er kommt einfach nicht an der Wirklichkeit vorbei. Das war im Kathmandu-Tal so wie an der Grenze zu China

von ULRIKE HERRMANN

Es ist ein monatliches Ritual. In Nürnberg werden die jüngsten Arbeitsmarktzahlen verkündet – und in Bremen setzt sich Paul M. Schröder sofort hin und rechnet nach. Wenig später schickt er Faxe und E-Mails durch Deutschland. Denn meist sieht sein Bild von der Arbeitswelt anders aus als jenes der Funktionäre und Politiker.

So war es auch gestern. Da meldeten die Arbeitsämter zerknirscht, dass 4,623 Millionen Arbeitslose zu zählen sind. Also 11,1 Prozent. Aber immerhin, bei den Jugendlichen wären es weniger als zehn Prozent! Das stimmt zwar, aber es gibt auch einen gegenläufigen Trend, den die Politik nicht hervorhebt. Aber Schröder. „Insgesamt werden die Arbeitslosen jünger“, stellt er fest. Das war das eigentlich Neue am Januar 2003: „Erstmals waren über vier Millionen Arbeitslose noch keine 55 Jahre alt.“

Er ist selbst betroffen. Schröder dürfte der einzige Statistikexperte Deutschlands sein, der „ehrenamtlich“ tätig ist, wie er es am liebsten nennt. Die Behörden haben einen härteren Ausdruck, sie führen den 55-Jährigen als „arbeitslos“. Aber das würde er „nicht gern in der Zeitung lesen“. Es hat ihn Überwindung gekostet, ein Interview zu geben. Er möchte hinter seinen Statistiken verschwinden, sie sollen wirken. Ohne ihn.

So war es auch am 12. August. Da schrieb Schröder Arbeitsminister Riester und allen Bundestagsfraktionen, dass das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit 2002 etwa fünf Milliarden Euro betragen werde – und nicht nur zwei Milliarden, wie es der Haushalt von Finanzminister Hans Eichel vorsah. Botschaften wie diese gefährdeten jedoch die Euro-Defizitkriterien. Und das vor der Wahl. Riester schwieg. Bei Paul M. Schröder meldete sich nur die SPD-„Arbeitsgruppe Haushalt“ im Bundestag: Sie sei „guten Mutes, dass die von Ihnen prognostizierten Zahlen nicht eintreffen“. Am Ende kam es, natürlich, wie von Schröder vorhergesehen. Der Bundeszuschuss an die Arbeitsämter betrug letztes Jahr 5,62 Milliarden Euro.

Die Union war selbstverständlich pessimistischer als die Regierungsparteien. Dennoch musste Schröder auch den CDU-Haushaltspolitiker Dietrich Austermann abmahnen. Der hatte im Oktober das zu erwartende Defizit der Arbeitsämter auf knapp sieben Milliarden Euro erhöht. Also schrieb Schröder, er sei „befremdet“ über diese „unseriöse Prognose“. Austermann konnte das nicht auf sich sitzen lassen. Sein Antwortbrief kulminierte in dem Satz: „Ihr Urteil über meine Prognose ist mindestens so forsch wie meine Prognose selbst.“ Dies lässt sich als Schuldeingeständnis werten – wenn man will.

Forsch ist Schröder nicht, er ist einfach nur Vermessungsingenieur im Erstberuf. Da könne man keine Prognosen machen, die vollkommen daneben liegen, sagt er: „Es kommt nicht gut an, die Leute über die Größe ihrer Grundstücke zu beschwindeln.“ Er lächelt. Das tut er oft, aber nach innen und nur für sich. Sein leises Lachen wirkt wie ein Echo, das auf Umwegen herbeischwingt: Wenn er sich amüsiert, dann wendet er sich ab, blickt nach draußen in den Hinterhof. Gegenüber sind graue Außenwandfliesen angebracht, wie sie in den Sechzigerjahren modern waren.

Die sieht er häufig, er ist „fast immer hier“: zwölf Quadratmeter, die deutlich kleiner wirken. Vielleicht wie vier. Denn nur so viel kann man betreten. Den Rest überlagern Papier, Akten und Statistiken. Es überflutet den Boden, die Wände, die Stühle, die beiden Tische und den Drucker. Nur der Name für dieses Minibüro ist üppig, es heißt „Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e. V.“. Schröder ist der einzige Angestellte des Vereins. Das Bremer Institut wurde überhaupt nur gegründet, um zumindest sein Büro zu finanzieren.

Das sind etwa 6.000 Euro jährlich, die neun Vereinsmitglieder und 25 Fördermitglieder aufbringen. Marieluise Beck gehört dazu, die Grüne Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium. Sie sagt, dass sie in ihrer Zeit als Bremer Bürgerschaftsabgeordnete „einfach fasziniert“ war, wie Schröders Zahlen „die ganze Verwaltung zum Verzweifeln brachten“.

Schröder kann einfach nicht an der Wirklichkeit vorbeisehen. Das war schon immer so. Statt zur Bundeswehr zu gehen, ließ er sich 1970 vom Deutschen Entwicklungsdienst nach Nepal entsenden. Eigentlich sollte er nur Teile des Kathmandu-Tals vermessen. Was dann geschah, meldete sogar der Stern: Man „wollte für die Großgrundbesitzer einen Wasserspeicher bauen. Doch der Techniker Paul Schröder lehnte es ab, durch seine Mitarbeit ‚die Reichen des Landes noch mächtiger‘ zu machen. Folge: Das Projekt wurde eingestellt.“

Er wurde in den Norden versetzt, an die Grenze zu China. Schnell störte ihn, dass für die Flüchtlinge aus Tibet gut gesorgt wurde, dass aber die ebenfalls armen Nepalesen nichts erhielten. Außerdem überzeugte ihn sein eigentlicher Auftrag nicht. Er sollte dem Kalikandhaki-Fluss zusätzliches Land abringen, stellte aber fest, dass seine Auftraggeber die Naturgewalten unterschätzten. Also schrieb er wieder Berichte. Kürzlich sah Schröder zufällig ein Kalenderluftbild des Kalikandhaki und war zufrieden: „Es sieht unverändert aus.“

Nächste Station war der Dschungel an der Grenze zu Indien. Schröder sollte Bewässerungskanäle vermessen, um Landlose anzusiedeln. Doch recht bald erkannte er, dass nicht die Armen vor Ort profitieren würden, sondern „Königstreue aus der Mittelregion“, die Nepal von der Demokratie Indien abschirmen sollten. Wieder verfasste Schröder Berichte. Das, sagt er, war „quasi das deutsche Aus auch für dieses Projekt“.

Zurück in Deutschland studierte er Ökonomie an der Universität Bremen. Ursprünglich wollte er die Entwicklungshilfe „auch theoretisch reflektieren“. Doch während er seine Seminare besuchte, veränderte sich die Bundesrepublik: Es gab erstmals Arbeitslose, die die Politiker „den Sockel“ nannten. Schröder wandte sich der neuen Armut im Inland zu und schrieb seine Diplomarbeit über die erfolglose Wirtschaftspolitik des Kanzlers Helmut Schmidt.

Danach hat er nie den Einstieg gefunden wie andere, die als Trainee und Referent Karriere machten. Es lag auch an ihm, das gibt er zu, „Bewerbungen waren Mangelware“. Er lacht wieder leise und schaut auf die Kacheln gegenüber.

SPD-Riesters Prognose?Um Milliarden falsch. Die Zahl von CDU-Austermann? Unseriös, befremdlich

Mal war er arbeitslos, mal ABM-Kraft, mal fest angestellt bei einem freien Träger. Er fürchtet den Vorwurf, er habe sich „durchgehangelt“. Dabei hat er „immer das Gleiche gemacht“. Eben die herrschende Deutung durch Zahlen widerlegt. Aber es kommt oft wenig Resonanz. Dann zweifelt er, „ob es so sinnvoll ist, was man tut“. Paul Schröder ist eben ein angenehmer Zweifler. Er zweifelt nicht nur an den anderen, sondern auch an sich selbst. Er weiß, dass viele denken, „der müsste doch einen Job finden“. Oder zumindest bekannter sein!

Seine Vereins-Chefs verzweifeln da leicht. Sie hätten gern, dass er auf Podien sitzt und nicht nur als Zuhörer im Publikum. „Er kann doch reden!“, sagt die Vorsitzende Elisabeth Mahlberg-Wilson, die an der Universität Bremen arbeitet. Aber gleichzeitig akzeptiert sie, dass ihr einziger Vereinsangestellter „so unheimlich bescheiden ist und sich so schwer tut, sich selbst zu verkaufen“. Immerhin hat ein Fördermitglied inzwischen die Außenwerbung ein bisschen professionalisiert und einen E-Mail-Verteiler angelegt.

Nach Neujahr wurde so eine Analyse über schwerbehinderte Arbeitslose verschickt. Glaubt man Rot-Grün, dann sank ihre Zahl in den letzten drei Jahren um knapp 24 Prozent. Ist man jedoch so akribisch wie Schröder, ergibt sich, dass sich die Statistik vor allem in der Altersgruppe ab 55 Jahren lichtet. Dort wurden plötzlich 45,1 Prozent weniger verzeichnet, aber bei den Jüngeren waren nur 5,9 Prozent aus der Arbeitslosigkeit ausgeschieden. Schröder schrieb kühl von einer „zunehmenden Verrentung“ der letzten Jahrgänge des Nazi-Geburtenbooms. Er setzte 1933 ein und endete in den Kriegsjahren 1941/42.

Schröder schickte seine Analyse allen Fraktionen und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Die CDU „teilt Ihre Auffassung“, kam knapp per Mail zurück. Auch ein Mitarbeiter des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung habe sich gemeldet, sagt Schröder. „Aber nur telefonisch, das war sicherer“. Denn seine Chefin Ulla Schmidt lobte wenig später im Bundestag den „großen Erfolg“ ihrer Integrationsoffensive. Sie blieb dabei: Die Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten sei um 24 Prozent gesunken!

Schröder lacht wieder leise, obwohl er das „nicht witzig“ findet. „Aber so ist es leichter zu ertragen. Sonst würde ich nicht durchhalten.“

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