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Unter Millionen

Michael Winterbottom erzählt im Wettbewerbsbeitrag „In this World“ von zwei afghanischen Flüchtlingen

Ein Umschnitt führt uns von einer Wüstenlandschaft in eine weitere. Zwei Gestalten tragen ihr Reisegepäck durch die Einöde, „Pakistan“ erklärt der Untertitel. Dieser lakonische Szenenwechsel beschreibt eine Katastrophe, denn Enayat (Enayatullah) und sein jüngerer, vielleicht 14-jähriger Cousin Jamal (Jamal Udin Torabi) waren schon viel weiter. Auf ihrem Weg vom Flüchtlingslager im pakistanischen Peschawar nach London hatten sie schon den Iran erreicht, als ein Soldat – „I think, you’re Afghans!“ – sie aus dem Bus zog. Noch einmal müssen Helfer bezahlt werden, die Reise auf Ladeflächen, zwischen einer Herde Schafe oder hinter Obstkisten beginnt von neuem. Eine Videokamera begleitet sie, und der Fußmarsch über die Berge der iranisch-türkischen Grenze erscheint durch die beinahe undurchsichtige Grobkörnigkeit der Nachtaufnahmen ebenso surrealistisch wie nah.

Dass Michael Winterbottoms „In this World“ durchgehend in diesem Spannungsverhältnis zwischen Dokumentation und Spielfilm bleibt, hat jedoch nicht nur mit der DV-Kamera zu tun. Geleitet von einem knapp 30-seitigen Drehbuchentwurf und dank der Freiheit zur Improvisation gewinnen die afghanischen Laienschauspieler eine Präsenz, mit der sie als Stars ihrer eigenen Geschichte „In this World“ in jedem Moment tragen. Zu keiner Zeit ist ihr Spiel auf Erklärungen angewiesen, während auch der Rhythmus des Films ganz von ihrer Reise bestimmt ist – von Wartezeiten, Kontrollen, Begegnungen, hektischen Aufbrüchen und gelegentlichen Fußballspielen.

Diese Entscheidung Michael Winterbottoms ist auch eine politische: Die persönlichen Gründe dieser zwei Persönlichkeiten müssen nicht genannt werden, „In this World“ stellt Jamal und Enayat keine biografische „Reiseerlaubnis“ aus. Stattdessen ist Armut ebenso sichtbar wie das Ausmaß von Vertreibung und Flucht, zu dem am Anfang ein paar Zahlen genannt werden: „14 Millionen Flüchtlinge weltweit, 5 Millionen davon in Asien, 1 Million allein in Peschawar.“

Die Spannung dieser Reise, die Dramatik und auch die Trauer, als einer der beiden über 40 Stunden in einem Container nicht übersteht, wird die gleichsam sachliche Fortsetzung der Fluchtbewegung nie stillstellen. Auch darin zeigt sich die materialistische Schönheit dieses Projekts: Es muss weitergehen, weil es ums Überleben geht. Jamal und Enayat sind sowohl Einzelne, nahe Protagonisten als auch zugleich nur zwei unter Millionen. Keiner von ihnen ist illegal.

JAN DISTELMEYER

Heute, 9.30 Uhr u. 23.30 Uhr, Royal Palast, 20 Uhr International

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