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Zeitungen sind sein trocken Brot

Seit Jahren liefert Selvo jede Nacht Zeitungen aus. Bei Wind und Wetter. Bis 6 Uhr müssen alle im Kasten sein. Der Lohn ist karg. Nachmittags steht Selvo im eigenen Laden. Und verkauft Zeitungen

von HANS W. KORFMANN

Es fällt ein schwerer Schneeregen aus dem schwarzen Himmel. In der Blücherstraße ist es noch finster. In einem Fenster aber brennt noch Licht. Früher wurden hier Computer verkauft und repariert. Jetzt steht die Tür offen, Neonlicht fällt aufs glänzende Straßenpflaster. Die Heizung ist abgedreht, der Teppichboden bedeckt nur noch Hälfte des Raumes, und die zwei grauen Bürosessel sehen aus, als wären sie endgültig auf ihren Abstellplatz gerollt worden. Leere Nescafédosen und Gläser im Regal, ein Aschenbecher, und die zu Türmen verschnürten Stapel von Tageszeitungen, tausenden.

Die Männer, die seit halb drei hier hereinkommen, wünschen sich einen „guten Morgen“. Sonst reden sie nicht viel miteinander. Sie sprechen sehr unterschiedliche Sprachen, kommen aus Afrika, der Türkei, Sri Lanka … – Deutsche sind die wenigsten. Die allerwenigsten. Also sehen sie schweigend die Listen ihrer Touren durch, packen wortlos die Handwagen mit der grünen Regenplane und dem Logo der Morgenpost mit hundert Kilo bedrucktem Papier voll. Vierzig Wagen für Kreuzberg. Dann ziehen sie in die nasse Nacht hinaus.

Die Zeitungen sind besser vor dem Regen geschützt als die Männer. Dicke Mäntel, steife Regenjacken würden sie nur behindern, dann würden sie ihre Tour nicht schaffen bis um sechs. Denn spätestens dann sollen die Abonnenten ihre Zeitungen auf dem Frühstückstisch haben. Dann will auch der Frühaufsteher wenigstens eine Spur von Wohlstand genießen. Dafür laufen die vierzig Männer mit ihren grünen Wagen. Dafür und für 5 Cent pro Zeitung.

Selvo war schon dabei, als die Lieferanten noch bei den Zeitungen angestellt waren und nach Tarif bezahlt wurden. Da brachte diese Arbeit 1.400 Mark netto ein. Jetzt, da Tagesspiegel & Co. so genannte Vertriebsagenturen mit der Auslieferung beauftragt haben, verdient er gerade noch knapp 500 Euro. Zum einen müssen die Laufburschen nun auch ihre Sonntagstouren versteuern, zum anderen strich die Agentur das Treppengeld. Immerhin 50 Mark waren das im Monat.

Selvo nimmt nicht mehr so viele Ausgaben mit wie früher. Nur noch 280. Er ist etwas müde geworden. Er läuft schon seit 20 Jahren durch die Straßen, füllte früher die Briefkästen von Mariendorf, Lichtenrade, Tempelhof, Tegel. Eigentlich hatte er sein Medizinstudium fortsetzen wollen. Aber für den Tamilen gab es kein politisches Asyl. „Jetzt kenne ich die Treppenhäuser von ganz Berlin“, sagt er und grinst. Er grinst oft. Anders hielte er das auch nicht durch. Seine Kreuzberger Tour ist eine der schwierigsten im Viertel. Katzbachstraße, Monumentenstraße, Eylauer Straße, Kreuzbergstraße. Altbauten ohne Fahrstuhl und selten Briefkästen im Erdgeschoss. Wenn Selvo ausfällt und andere einspringen müssen, dann brauchen sie fünf Stunden.

Aber Selvo hat seine Tour im Kopf, er braucht keine Liste mehr, kennt seine 280 Leser. Er bleibt vor der Haustür stehen, schließt für vier Sekunden die Augen, murmelt die Namen vor sich hin und zieht drei Tagesspiegel, zwei Berliner, zweimal die taz und einmal die Frankfurter Rundschau aus seinem Stapel. Er hatte mal auf ein Revier gehofft mit vielen Briefkästen im Erdgeschoss. Dann bräuchte er die halbe Zeit. Inzwischen hat er diese Hoffnung aufgegeben.

Über hundert Treppen steigt er jede Nacht. Die ersten nimmt er noch im Laufschritt, zwei Stufen auf einmal. Das ist kein sportlicher Ehrgeiz. Er muss sich beeilen, denn wenn er nicht pünktlich um 6 alle Zeitungen in den Briefkästen hat, werden die Leser reklamieren. Wenn sich die Abonnenten beschweren, wird ihm ein Teil vom Lohn abgezogen. Er hat noch nie genau nachgerechnet, wie viel das eigentlich ist. Dann verlöre er womöglich die Lust am Arbeiten. Und das kann er sich nicht leisten. Obwohl die Mühe ohnehin nicht mehr lohnt. Vielleicht für den Chef der Agentur, der drei Jahre nach der Wende noch mit seinem Trabant anrückte und jetzt im Jeep vorfährt. Aber nicht für die Laufburschen. Natürlich hat Selvo oft daran gedacht, die nächtlichen Botengänge einzustellen. Jedes Mal im Winter, wenn es kalt ist, und wenn er noch länger braucht wegen der Handschuhe. Oder wenn er nass geschwitzt ist und sich einen Husten einfängt und die Treppen nicht mehr hochkommt. Aber er hat sich zu sehr gewöhnt an diese Tour. Sie ist längst zu seinem natürlichen Rhythmus geworden, gehört zum Leben wie Frühstück, Zähneputzen und Schlafen. Wie die Zigarettenpause nach der Katzbachstraße mit ihren fünf Stockwerken ohne Fahrstuhl. „Immer, wenn ich an diese Ecke komme, rauche ich eine Zigarette. Als Belohnung.“ Sonst gibt es kaum Belohnungen.

Vor ein paar Jahren, als er noch in Lichtenrade unterwegs war, da hatte er zu Weihnachten 4.000 Mark Trinkgeld bekommen. Das war nichts Außergewöhnliches. Dieses Jahr in Kreuzberg waren es noch 250. Das ist auch nichts Außergewöhnliches. Die Zeiten werden schlechter. Sogar der Redakteur von der Berliner Zeitung, der darauf bestand, dass Selvo ihm die Zeitung nicht in den Kasten steckte, sondern in den fünften Stock brachte, gab dieses Jahr kein Trinkgeld mehr. Dreimal hatte er sich schon über den mutmaßlich faulen Lieferanten beschwert. „Obwohl der Herr Redakteur doch keinen Pfennig dafür zahlen muss.“

Die meisten Empfänger der Tageszeitungen kennen Selvo nicht. Sie haben ihn nie gesehen, er ist eine Art nächtlicher Spuk. Aber er kennt seine Leser. Er weiß, wer die beiden Exemplare Neues Deutschland in seinem Viertel bekommt, wo die zwanzig taz-Abonnenten wohnen – „fast alle im 4. Stock“ – und die fünfzig Tagesspiegel-Leser. Er weiß, bei wem er sich keine fünf Minuten Verspätung leisten darf, und bei wem er die Zeitung auf die Fußmatte legen und nicht durch den Schlitz der Haustür stecken soll. Bei wem er sie, raffiniert zu einem Fluggerät gefaltet, die halbe Treppe hinauf vor die Tür werfen kann, um ein paar Schritte und 15 Sekunden zu sparen: „Die besten Kunden sind die FAZ-Leser. Da hat sich noch nie einer beschwert. Am schlimmsten sind die Tagesspiegler. Aber das sind ja auch die meisten. Und dann kommen die von der taz. Ehrlich. Ich habe ja früher auch die taz gelesen. Aber dass ich mich beschweren würde, wenn mir so ein Sklave die Zeitung zu spät in den Briefkasten steckt, auf die Idee wäre ich nie gekommen.“ Sogar der Pfarrer aus der Kreuzbergstraße kannte kein Erbarmen und beschwerte sich umgehend wegen einer Verspätung.

Selvo kennt sich aus in seiner kleinen Welt. Er weiß, wo im Garten der Hanf wächst, in welchen Treppenhäusern sich in lauen Sommernächten die Liebespärchen treffen. Wo die Türen sind, damit er in den dritten Hinterhof kommt, um wegen einer einzigen Zeitung bis in den vierten Stock zu steigen. Und wo er mit einem einzigen seiner hundert Schlüssel gleich zwei Häuser beliefert, weil er den Durchgang zum Nachbarhof kennt. Er weiß, wo er eine oder zwei Minuten sparen kann. Auf jede dieser Minuten kommt es an, wenn er morgens nicht wie die anderen schon um halb drei in der Blücherstraße stehen will. Wenn er sich den Luxus leisten möchte, erst um halb vier aufzutauchen.

Der Schnee ist allmählich in Regen übergegangen. Fünf Uhr ist es jetzt, der Handwagen ist noch halb voll, in den Häusern gehen die ersten Lichter an. Im Hinterhaus der Katzbachstraße holt der Bäcker die ersten Brötchen aus dem Ofen, der ganze Hof duftet. Der Mann mit dem Schäferhund grüßt den Zeitungsmann über die Straße hinweg. Sie sehen sich jeden Morgen. Sieben Tage in der Woche.

Halb sechs. Auch Selvos Frau muss jetzt aufstehen, um den Kindern das Frühstück auf den Tisch zu stellen. Er weckt sie jeden Morgen mit dem Handy. Wenn es kalt ist oder in Strömen regnet, sucht er sich einen Hauseingang und bleibt einen Moment stehen. Aber wenn er zu spät ist, dann telefoniert er im Laufschritt, hinter sich den Wagen herziehend. Zeit für viele Worte hat er nicht.

Sechs Uhr, etwa fünfzig Zeitungen hat er noch, über der breiten Gleisschneise des Anhalter Bahnhofs dämmert ein Tag herauf. Der Regen rinnt jetzt in feinen Fäden vom Himmel, und Selvos Frau macht gerade den Laden auf. Selvos kleinen, aber eigenen Laden. Einen Laden mit vielen Zeitungen. Zeitungen sind eben Selvos trocken Brot. Selvos Frau hat schon einige BZ verkauft, wenn ihr Mann um sieben nach Hause kommt. Dann fährt er die Kinder in die Schule. Er ist müde und schläft etwas. Bis die Schule aus ist. Dann geht er in den Laden, um bis zum Abend zwischen seinen Zeitungen zu stehen. Danach beginnt das Leben. Für ein paar Stunden. Bis er irgendwann einschläft. Für ein paar Stunden. Und der nächste Tag beginnt. Mitten in der Nacht. Drei Uhr.

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