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Aus seliger Erstarrung

„Wann, wenn nicht jetzt?“, drängt die Schwägerin am frühen Morgen, kichert und wickelt jedem von uns noch schnell einen dicken Schal um den Hals, bevor sie uns, selbst vom Rotwein wankend und schwankend, zur Haustür hinausschubst. „Los, auf ins Abenteuer!“ Das Protokoll eines karnevalistischen Selbstversuchs zum Auftakt der Basler Fasnacht

von CORNELIA KURTH

Es ist kein Kunststück, eine Party bis nachts um drei durchzuhalten? Doch, jedenfalls dann, wenn man, ganz nett betrunken, nicht bald ins nächstgelegene Bett fallen darf, sondern in eine kalte Februarnacht hinaustreten soll, um durch die stille Stadt zu wandern, zu einer geheimnisvollen Veranstaltung, die zur schlaftrunkensten aller Uhrzeiten beginnt: um vier Uhr morgens. „Morgenstraich“, der Auftakt zum dreitägigen Basler Fasnachtstaumel.

„Och nöö, kein blöder Fasching, kein Karneval!“ Meine Schweizer Schwägerin hatte es nicht gerade leicht damit, meinen Bruder und mich zur Teilnahme an einem Fest zu überreden, für das wir nur eine typisch norddeutsche Gleichgültigkeit übrig haben.

„Unsere Fasnacht ist ganz, ganz anders als Karneval! Oder denkt ihr, wir feiern umsonst erst nach Aschermittwoch, wenn die Katholiken schon längst alle Ausschweifungen ihres Karnevals gebeichtet haben und brav fasten?“ Den ganzen Tag schon redet sie so, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Schon seit Jahren in Basel verheiratet, hat mein Bruder nämlich bisher stur die Fasnacht ignoriert, aber diesmal feiert er just in der Nacht zum „Morgenstraich“ seinen Geburtstag. „Mal sehn“, sagen wir. „Vielleicht. Je nachdem.“

„Wann, wenn nicht jetzt?“, drängt die Schwägerin am frühen Morgen, kichert, und wickelt jedem von uns noch schnell einen dicken Schal um den Hals, bevor sie uns, selbst vom guten Rotwein wankend und schwankend, zur Haustür hinausschubst. „Los, auf ins Abenteuer!“

„Und du?“

„Ach Kinder, ich war schon mindestens zwanzigmal dabei …“

Mein Gott, ist das kalt draußen! Im Handumdrehen sind unsere Köpfe wieder klar, und wir sehen die Sterne. Über den ganzen Himmel verteilt, funkeln sie auf dem Weg zu einer der riesigen Brücken, die über den Rhein in die Basler Altstadt führen. Kein Mensch unterwegs außer uns. „Hier ist es ja still wie in einer Kleinstadt“, sage ich. „Und dabei sollen angeblich Zehntausende kommen zu diesem Morgenstraich.“ Ein wenig ratlos zuckt mein Bruder mit den Schultern. „Tut mir Leid. Keine Ahnung.“

Da hören wir eilige Schritte hinter uns und rhythmisches Schnaufen. Da läuft jemand. Ein junger Mann, schwarzweiß gekleidet, unter dem Arm trägt er eine Maske mit spitz vorstehender Nase. Kurz bleibt er stehen, zupft etwas an seiner komischen Jacke zurecht, und schon ist er an uns vorbei gehastet: „Oje, oje!“ – das verspätete Kaninchen aus Alices Wunderland.

Und da kommen noch zwei Kostümierte angeeilt, einer schleppt sich mit einer großen Trommel ab, und dabei sieht er so verschlafen aus. Jenseits der großen Brücke, schon nahe dem Gewirr der Basler Altstadtgassen, überholen uns ständig solche vereinzelten Gestalten, getrieben von einer stillen Hastigkeit, und alle streben sie auf einen Treffpunkt zu, der irgendwo vor uns liegen muss in den verwinkelten, bergauf und bergab führenden Straßen der schönen alten Stadt. Wir eilen hinterher. Es hat uns schon jetzt erwischt.

Und plötzlich sind überall Menschen, mitten in dieser Nacht. Als hätte man irgendwo Schleusen geöffnet, strömen sie durch die Stadtgassen, ruhig, zielstrebig, seltsam gespannt und ernst. Eine große Feierlichkeit liegt in der Luft, eine ganz und gar altmodisch respektvolle Erwartungsstimmung. „Spürst du das auch?“, fragt mein Bruder. Ja, auch ich spüre es, und ich fühle mich ihm sehr nah, weil mein Gefühl mich plötzlich in eine Vergangenheit zurückversetzt, in der wir zusammen auf etwas Großes warteten. „Wie Weihnachten!“

In kleinen Gruppen stehen jetzt kostümierte Männer und Frauen zusammen, unterhalten sich flüsternd, ihre Masken noch in der Hand. Die bloßen Zuschauer halten respektvollen Abstand im langsamen Vorübergehen. Am Bordstein sitzt ein einsamer Vogelmensch, die Schnabelmaske auf den Hinterkopf geschoben, raucht eine letzte Zigarette. Kleine Kinder schlafwandeln an der Hand ihrer Eltern, alte Leute mit dicken Tüchern um die Schultern blicken hellwach, Teenagergrüppchen versuchen zusammenzubleiben im immer dichter werdenden Treiben. Noch nie im Leben habe ich einen Menschenauflauf gesehen, der so verhalten und gleichzeitig so gespannt auf ein Ereignis wartete.

Wir wissen gar nicht, wohin wir gehen. Wie alle anderen suchen wir einen freien Platz, an einer Hauswand, einer Mauer, einem Eingang. In der Mitte der engen Gassen formieren sich die bunt, lustig und wild Kostümierten, darunter auch würdig Uniformierte, die alle Trommeln, Querpfeifen oder große Stablaternen tragen. Gleich wird etwas passieren. Es liegt in der Luft, dass gleich etwas ganz Besonderes passiert.

Plötzlich – gehen alle Lichter aus, an den Straßenlaternen, in den Häusern und Gastwirtschaften. Die Verkleideten setzen ihre unförmigen Masken auf, unter denen sie als Individuen ganz verschwinden. Nur noch die hohen Stablaternen leuchten und die kleinen eckigen Laternen auf ihren Köpfen. Querpfeifen werden vor gespitzte Münder gehalten, Trommelstöcke schweben über den Trommeln. Es ist atemstill wie in einem Traum.

Und dann vier helle Glockentöne.

„Morgenstraich!“, ruft todernst eine raue Stimme.

Das war das Zauberwort. Morgenstraich!

Hell schrillen die Pfeifen auf, durchdringend dunkel dröhnt archaisch-wildes Trommeln, und die Züge mit ihren Leuchten setzen sich in Marsch. Es gibt keine erkennbare Melodie, die Trommelschläge wirbeln durcheinander wie tausend laut klopfende Herzen. Und doch stapfen die Maskierten in einheitlichen, sehr kleinen Schritten voran. Das ist wahrlich kein Karneval. Das ist, was ist es? Das ist: ganz anders!

Mir schießen Tränen in die Augen, ja. Ich bin erschüttert über diesen gewaltigen Stimmungsumschwung, über die seltsam beglückende Vorahnung, dass wir jetzt mitgerissen werden in etwas Unausweichliches. Afrika. Australien. Kindheit. Traumpfade.

Auch mein Bruder hat Tränen in den Augen, es muss so sein, er lächelt mir zu und nimmt meine Hand. Wie auf ein Zeichen werden wir gleichzeitig mit all den anderen Menschen am Rand der Gassen sanft aus unserer seligen Erstarrung gelöst und begleiten gebannt, als folgten wir einer musizierenden Rattenfängertruppe, dem Zug, in dessen Nähe wir gerade gestanden haben.

Und nun kommen von überall her ungezählte Fasnachtzüge, mit Trommeln und Pfeifen und ihren Lichtern, die in der dunklen Stadtnacht schimmern. Keine Straße, keine Gasse, in der sie sich nicht vorwärts und gegeneinander schieben, sich von rechts und links zu Strömen vereinigen, um schließlich sternförmig aus allen Richtungen zum Marktplatz zu fließen.

Und immer diese betäubende Musik, der wir in schwindliger Berauschtheit folgen, aus der Zeit gefallen im sanften Drücken und Schieben, das es unmöglich macht, einen eigenen Weg zu wählen.

Es könnte auch Angst aufsteigen: Bei einer aufkommenden Panik wären tausend Tote gewiss. Es könnte auch Scham entstehen, über die tiefe Freude daran, so in einer Masse aufzugehen. Aber nein. Nein! Keine zwiespältigen Gefühle hier und jetzt. Rempelt etwa jemand oder grölt? Gibt es Führer und Parolen, deren man sich schämen müsste? Auf den hübschen bunten Stablaternen stehen wohl Sprüche, irgendwelche. Aber für uns ist das Geheimschrift, bizarres Schwyzerdütsch, unlesbar.

Die Hingabe ist erlaubt. Sie ist keine Frage. Sie geschieht! Wie lange? So lang, wie Träume dauern.

Dann, unvermutet wie ein Wecker klingelt, an einer Kreuzung, in der sich zehntausend Menschen wie Moleküle in einem Zeitlupenwirbel umeinander drehen, wir beide mittendrin, noch Hand in Hand, spült es uns an den Rand. Ein Schritt in eine offene Gasse, hundert Meter geradeaus und – wir sind draußen. Einfach so. Weil irgendjemand, irgendetwas bestimmt hat, dass unsere Traumzeit für diesmal abgelaufen ist.

Bist du es, bin ich es noch? Wollen wir einkehren in eine der vielen Gaststätten, wo man traditionellerweise gebrannte Mehlsuppe verspeist oder Käse- und Zwiebelkuchen? Uns mischen zwischen die von dieser Fasnacht so friedlich berauschten Menschen und noch einen Morgenwein trinken? Gelassen gleitet der Rhein unter dem Sternenhimmel dahin. Pfeifen und Trommeln und all die eigenartigen Gestalten sind unwirklich fern gerückt. Einen Moment lang stehen wir unentschlossen auf der großen Brücke zwischen den Welten.

„Komm“, sage ich. „Lass uns gehen. Nach Hause.“ Um zu schlafen. Zu träumen.

Der diesjährige Basler Morgenstraich findet in den frühen Morgenstunden des 10. März statt CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Journalistin und Buchautorin („Frederikes Tag“, „Ein Jahr mit neunzig Tagen“) in Rinteln an der Weser – nahe der reichlich unkarnevalistischen „Rattenfängerstadt“ Hameln

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